Diözesanpartnerschaft Tula und Münster
Erfahrungstransfer und Förderung von Entwicklungsprozessen in der kirchlichen Partnerschaftsarbeit:
Soziale und religiöse Arbeit im Rahmen der Diözesanpartnerschaft zwischen Tula in Mexiko und Münster
Maria Guadalupe Rivera Garay (BGHS, Universität Bielefeld)
Gilberto Rescher (Lateinamerika-Studien, Universität Hamburg)
Politische Dimensionen von Religiösität in Lateinamerika
Die Bedeutung der Religion war in lateinamerikanischen Gesellschaften historisch zentral für den Anschub sozialer und ökonomischer Entwicklungsprozesse. Während des vergangenen Jahrhunderts existierten verschiedene Strömungen, sowohl konservative wie auch progressive, die sozialen Wandel und politische und ökonomische Veränderungen angestoßen haben. Die Theologie der Befreiung, die Kirche der Armen bzw. die Option für die Armen, das Summer Institut for Linguistics, sowie rechtsgerichtete Teile der katholischen Kirche, die den Militärputsch durch Pinochet in Chile unterstützt haben, sind einige dieser Beispiele, die es in der Vergangenheit geschafft haben, die Entwicklung unterschiedlicher Länder Lateinamerikas in tiefgreifender Weise zu prägen.
Auch gegenwärtig lassen sich Prozesse beobachten, bei denen das öffentliche Interesse und die Art der gesellschaftlichen Thematisierung auf eine zunehmende Verbindung von Religiosität und Politik hinweisen, in der charismatische und evangelikale Freikirchen eine zentrale Position einnehmen. Dies geschieht auf Grundlage einer fundamentalistisch ausgerichteten religiösen Interpretation, die politische Interventionen legitimiert und zudem eine Haltung fördert, die bestimmte Akteure und sozialen Gruppen erniedrigt und unterdrückt, die in ihrer Ideologie als „Gefahr für das System“ angesehen werden. Beispiele für diese Tendenzen finden sich in der Regierung Bolsonaros in Brasilien, unter der fortwährend sozial minorisierte Gruppen angegriffen werden, darunter indigene Gruppen und Frauen, aber auch die Natur, ebenso wie in den aktuellen Geschehnissen in Bolivien, wo eine fundamentalistische Bibelinterpretation als Werkzeug politischer Legitimation in den Fokus rückt, um eine demokratisch gewählte Regierung im Rahmen eines sog. kalten Putsches abzusetzen und einen gesellschaftliche Wandel anzugreifen, durch den die Stellung zuvor minorisierter Gruppen verbessert worden war. Angesichts dieses Phänomens argumentiert der Philosoph und Theologe Enrique Dussel, dass diese Vorgänge nichts mit Religion an sich zu tun haben, sondern klar im Widerspruch zu zentralen religiösen Inhalten und Werten stehen. Die sich daraus ergebende Situation in der eine machtpolitische Instrumentalisierung von Religion akzeptiert und die Gleichsetzung von Religiosität mit einer fundamentalistischen Lesart gleichgesetzt wird, müsse durch kritische Bewusstseinsarbeit geklärt werden, um zu Institutionalität und demokratischen Prozessen in der Region zurückzukehren und Angriffe aus intoleranten Gegenpositionen abzuwehren.
Partnerschaftsarbeit zwischen den Bistümern Münster und Tula
Vor diesem Hintergrund sehen wir es als sehr wichtig an, jene Art von politischer Religösität in den Fokus zu rücken, die im Widerspruch zu den oben geschilderten Prozessen steht, und ihre Bedeutung für soziale Prozesse zu analysieren. Religion hat generell im Laufe der Geschichte zur Emanzipation und zum Empowerment von Angehörigen desprivilegierter Gruppen beigetragen, ebenso wie zu Verständigung und religiöser Toleranz. Dies ist gerade auch in Lateinamerika der Fall, wofür die Sozialpastorale der 1970er Jahre ein Beispiel ist. Dies zeigt sich insbesondere an der sozialen Arbeit die sich über die vergangenen Jahrzehnte hinweg entwickelt hat, nachdem in Folge des Zweiten Vatikanischen Konzils der Austausch im Rahmen von Partnerschaften zwischen Bistümern und Pfarreien vorangetrieben wurde. Dies hat zu miteinander verwobenen Entwicklungsprozessen und zum gegenseitigen Verständnis der unterschiedlichen Alltagswelten beizutragen, wobei ein besonderer Fokus auf sogenannten marginalisierten Gruppen, dem Respekt vor dem Leben und der gleichberechtigten Integration verschiedener Formen von Religiosität und Glauben in den Alltag lag. Diese Einbettung der Akteure in den lokalen Alltag mit dem Anspruch einen offenen Austausch zwischen unterschiedlichen sozialen Gruppen zu fördern, war eine der wichtigsten Strategien, die bis heute ein harmonisches Zusammenleben ohne größere problematische Konfrontationen und Konflikte erlaubt. Unter diesen Prämissen wird das „Positive“ aus dem jeweiligen Kontext der beteiligten sozialen Akteure aufgegriffen und zur Förderung des sozialen und menschlichen Wohls integriert, ohne dabei Andersartigkeit zu entwerten, zurückzudrängen oder fremde Sichtweisen aufzuzwingen. Das Teilen und Kennenlernen unterschiedlicher Sichtweisen steht im Zentrum dieses Prozesses.
Wir werden mit unserer Forschung den Fall der Partnerschaft zwischen den Bistümern Tula und Münster untersuchen, da er für dieses Anliegen beispielhaft ist. Dazu werden wir Erfahrungen, Aktivitäten und trajectories zentraler Persönlichkeiten analysieren, die nach Mexiko in die Region des Valle del Mezquital gegangen sind bzw. entsandt wurden, um sich im Rahmen der Bistumspartnerschaft zu engagieren. Auf dieser Grundlage werden wir die Prozesse des Wandels untersuchen, die damals eingeleitet oder befördert wurden, um die ökonomische und soziale Entwicklung dieser Region zu fördern, die bis heute als eine der ärmsten Mexikos gilt. Denn dort hatten sie einen entscheidenden Einfluss auf gesellschaftliche Entwicklungsprozesse und förderten die Toleranz zwischen verschiedenen religiösen Strömungen. Ein Fokus wird dabei auf der Gemeinde Cardonal liegen, da dort die konkreten Aktivitäten im Rahmen der Partnerschaftsarbeit ihren Anfang nahmen.
Daneben ist es ein essentieller Teil der Analyse gerade auch Transfers zu berücksichtigen, die von Mexiko nach Deutschland stattgefunden haben. Zum einen, weil sie im Rahmen der praktischen Partnerschaft von großer Bedeutung sind und zum anderen, weil so mit einer Perspektive gebrochen werden kann, die mit einem klassischen Gedanken von „Entwicklungshilfe“ Transfers in eine Richtung überbewertet, statt den dynamischen Austausch zu betrachten. Denn es lässt sich konstatieren, dass viele der aus Deutschland stammenden Aktiven in der kirchlichen Partnerschaftsarbeit Vieles aus Mexiko auf- und übernommen haben, und so also zusätzlich zum ursprünglichen Anliegen viel von dort gelernt haben.
Nicht zuletzt sollen dabei auch Erkenntnisse darüber gewonnen werden, wie eine solche internationale Partnerschaftsarbeit erfolgreich gestaltet werden kann, welche Herausforderungen existieren und wie diesen dann begegnet werden kann, aber auch welchen Einfluss sie bspw. auf Lebensentwürfe dort und hier hat, wodurch dieser Austausch deutlich weiterreichende Einflüsse haben kann, als dies in der Regel erwartet wird. Dies geschieht mit dem Ziel ggf. potentielle Impulse für eine Stärkung solcher Aktivitäten zu geben und diese Art von praktischer weltoffener und toleranter Religiösität zu unterstützen.
Für dieses Forschungsprojekt werden zunächst Interviews mit zentralen Personen in Deutschland geführt, die Ende der 1970er Jahre in das Valle del Mezquital kamen und die ersten Selbsthilfegruppen, Werkstätten und eine kooperative Arbeit initiierten, die bis heute positive Nachwirkungen in der Region haben. Dies gilt insbesondere für die Situation von Frauen und der indigenen Bevölkerung, die in historischer Perspektive vergessen und sozial marginalisiert war. Die Interviews werden narrativ und offen sein und ggf. Folgeinterviews einschließen. Die Analyse wird den Prämissen der Grounded Theory folgen, wobei im Sinne einer Triangulation neben den Interviews auch andere Materialformen einbezogen werden.
Ergebnistransfer und mögliche Fortführung
Ausgehend von diesen Analysen in einem Feld, das bisher kaum Aufmerksamkeit erhalten hat, soll das Projekt weiter ausgebaut werden. Zum einen ist es denkbar weitere Person zu interviewen, insbesondere nach Möglichkeit in Mexiko, um dadurch unterschiedliche Phasen der Partnerschaftsarbeit einzubinden. So kann auch das Argument des fortlaufenden sozialen Wandels in diesem Zusammenhang gestärkt werden. Zudem ist es denkbar, den Fall des Valle del Mezquital für einen intra- oder auch transregionalen Vergleich heranzuziehen, wobei die Möglichkeit besteht, die lange praktizierte progressive Religiösität im Valle des Mezquital mit anderen eher fundamentalistisch durchdrungenen Strukturen zu vergleichen. Damit könnte argumentiert werden, dass die Einflüsse kirchlicher Partnerschaftsarbeit und religiöser Aktivität auch ein Gegengewicht zu aktuellen regressiven religiös-politischen Kräften darstellen können, weil und vor allem durch die Art wie sie zu mehr Toleranz, Gleichheit und zur Emanzipation vieler Menschen führen.
Darüberhinaus ist gemeinsam mit der katholisch-sozialen Akademie Franz-Hitze-Haus in Münster die Organisation einer Fachtagung zum Thema „Religiosität, Politik und Entwicklungsprozesse“ geplant.
- Dauer: 2021-2022
- Projektleitung: Maria Guadalupe Rivera Garay, Gilberto Rescher
- Drittmittelgeber: Fachstelle Weltkirche des Bistums Münster