Übersehene Vielfalt
Bildungs- und Erwerbsbiographien indigener Frauen in Mexiko
Frauen aus sogenannten sozial minorisierten Gruppen, insbesondere indigene Frauen, werden in Mexiko, und darüber hinaus in den meisten Ländern Lateinamerikas als marginalisiert und in „traditionellen“ sozialen Verhältnissen gefangen angesehen, die sie ihrer Verwirklichungschancen berauben. Diese Sichtweise missachtet jedoch die große Zahl an indigenen Frauen, die jenseits der ihnen in gesellschaftlichen Stereotypen zugestandenen Bereiche erfolgreich aktiv sind und sich dort in vielfältiger Weise emanzipiert haben.
Diese Unsichtbarkeit oder auch Missachtung ergibt sich v.a. durch gesellschaftliche Stereotype und Zuschreibungen in denen ihnen letztlich ihre Handlungsmacht als eigenständige Akteure abgesprochen wird. Zwar sind relativ viele indigene Frauen, die in einer Vielzahl gesellschaftlicher Felder erfolgreich aktiv sind, allerdings wird dies selten anerkannt, denn es findet eine soziale Rekonzeptualisierung statt, da erfolgreiche Frauen aus diesen Minderheiten quasi nicht ins Bild passen. Sie werden eher als marginalisierte Opfer angesehen, mit Stereotypen belegt und sind Ziel rassistischer Haltungen und Diskriminierungen oder aber einer paternalistischen Perspektive, die ihnen ebenfalls ihre Handlungsmacht abspricht und sie als hilfsbedürftige Opfer begreift, denen kein Potential zu eigenständiger Emanzipation zugestanden wird.
Ein treffendes Beispiel für Letzteres sind Konflikte zwischen solchen Feministinnen, die aus dem städtischen Raum und gesellschaftlich eher privilegierten Kontexten stammen und jenen die genannten Minderheiten angehören, denn die jeweilige geschlechtsspezifische Stellung ist selbstverständlich immer mit anderen sozialen Kategorien (wie Ethnizität, Erwerbshintergrund, Alter, Bildungsgrad, Herkunft etc.) verschränkt. So werden auch im Verhältnis dieser Gruppen zueinander Vorstellungen über gesellschaftliche Gruppen aktiviert, die bspw. zur Reproduktion von Stereotypen über Minderheiten und Armut, Bildungsferne, Gewalt u.ä. führen. Häufige Probleme sind dabei, dass Lebensentwürfe durch privilegierte Gruppen verallgemeinert werden, obwohl sich deren Anliegen nicht zwingend mit denen anderer Gruppen decken und sogar widersprüchliche Forderungen entstehen können, die aber alle sehr wohl feministisch sind, allerdings von unterschiedlichen Warten innerhalb der sozialen Diversität. Dies äußert sich bspw. darin, dass solche Feministinnen nicht isoliert an eine Emanzipation der Frauen denken, sondern auch gleichzeitig ihrer Minderheit erreichen möchten und deshalb z.B. nicht mit Werten von Kollektivität brechen möchten. Dazu kommt der Vorwurf vieler Frauen, dass sich urbane Feministinnen arrogant oder bestenfalls paternalistisch verhielten, indem sie die Vorstellungen anderer Frauen nicht akzeptierten, sondern sie nach ihren eigenen Maßstäben und Sichtweisen bewerten und ihnen sogar vorhalten, sie seien konservativ, wären nicht in der Lage, sich selbst wirklich zu emanzipieren und seien keine echten Feministinnen, da sie nicht verstünden, dass sie von einem patriarchalen System unterdrückt werden.
Beide Fälle, die Diskriminierung wie die paternalistische Haltung, befördern die Unsichtbarkeit der indigenen Frauen, da sie dazu führen, dass Frauen die nicht in die gesellschaftlich akzeptierten Sichtweisen passen, kaum noch mit ihrem indigenen Hintergrund in Verbindung gebracht werden. Hier besteht offensichtlich ein System des Nichtwissens im Sinne Gudrun Lachenmanns (1994), das zur Stabilisierung der gesellschaftlichen Kategorisierungen beiträgt. So werden bspw. einerseits indigene Hausmädchen als normal angesehen und ihr gesellschaftlicher Beitrag damit übersehen und andererseits indigene Akademikerinnen oft sozial umdefiniert und de-ethnisiert. Aufgrund des Hintergrunds dieser Frauen, lässt sich annehmen, dass sie Erfahrungen mit multidimensional gelagerter Diskriminierung, aber andererseits auch in gewissem Sinne daran gewöhnt sind mit diesen umzugehen. Dies könnte ein wichtiges Element ihrer Handlungsmacht und der Fähigkeit sein den sozialen Stereotypen und der resultierenden Benachteiligung entgegen zu handeln, wobei dies natürlich keineswegs konfliktfrei ist.
Da die geschilderte soziale Unsichtbarkeit auch zu einer mangelnden akademischen Wahrnehmung beigeträgt, werden im Rahmen des Projekts beispielhafte Biographien und berufliche bzw. aktivistische und politische Biographien (im Sinne von trajectories) von indigenen Frauen in Mexiko untersucht. Analytisch wird die Verknüpfung von Geschlechterverhältnissen bzw. Gender als Kategorie, der ethnischen Zuschreibung und dem Hintergrund der Herkunft bspw. aus ländlichen Räumen, indigenen Dorfgemeinschaften oder marginalisierten Stadtteilen zentral sein, aber auch eine konzeptionelle Berücksichtigung anderer Facetten von Diversität ist zwingend nötig, um der Komplexität der sozialen Aushandlungsprozesse und dahinterstehender Kategorisierungen gerecht zu werden und vereinfachende Erklärungsmuster zu hinterfragen und ggf. zu dekonstruieren. Gleichzeitig ist es aber notwendig im Sinne des feministischen Verflechtungs- bzw. Subsistenzansatzes (vgl. bspw. Veronika Bennholdt-Thomsen 1985) und der genderorientierten Entwicklungsforschung auch die Aspirationen, Strategien und Lebensrealität „normaler“ indigener Frauen zu erfassen, um gängige Stereotype zu dekonstruieren, die diesen Frauen bspw. ihre Handlungsmacht und ihre essentielle Bedeutung für ihr Umfeld in ökonomischer, sozialer und politischer Hinsicht absprechen.
So sollen bspw. Fragen nach der sozialen Konstruktion der sozialen Positionierung dieser Frauen gestellt werden, gerade vor dem Hintergrund der intersektionellen Verflechtung diverser Kategorien. Ein weiterer zentraler Fokus liegt auf der den sozialen Praktiken und Strategien, die von den entsprechenden Frauen entwickelt werden, um mit der Erfahrung von sozialer Ungleichheit und multidimensional gelagerter Diskriminierung umzugehen und ihre Aspirationen zu verfolgen. In den Biographien und über Beobachtungen im sozialen Umfeld ist mit der Herausforderung der bisher gängigen sozialen Kategorisierungen zu rechnen und damit, dass so die vielschichtigen gesellschaftlichen Positionierungen in ihrer Aushandlung sichtbar werden. Grundlegendes Ziel ist die Generierung von Aussagen mittlerer Reichweite, um aus der Analyse der einzelnen Fälle heraus generalisierbare Aussagen zu den untersuchten Prozessen zu treffen. Dies soll u.a. den Vergleich mit Frauen in entsprechenden Positionen in Europa, bspw. solchen mit Migrationsgeschichte, ermöglichen.
- Dauer: 2021-2022
- Projektleitung: Maria Guadalupe Rivera Garay, Gilberto Rescher
- Drittmittelgeber: Gleichstellungsfond der UHH