Geschichte des Instituts
Die ersten hundert Jahre: Anglistik in Hamburg seit 1911
Das Institut für Anglistik und Amerikanistik blickt bereits auf eine lange Tradition zurück. Die folgende Rede wurde anlässlich der Feier des 100. Bestehens des IAA am 15.12.2011 von Prof. Hühn gehalten:
Die Entwicklung einer Institution ist die Geschichte von aufgetragenen Funktionen und deren Ausführung durch die hierfür eingesetzten Personen im sich wandelnden sozialen und politischen Kontext. In diesem Sinne werde ich diesen – quasi-narrativen – Überblick über hundert Jahre Anglistik in Hamburg mittels der Abfolge der Fachvertreter, ihrer Arbeitsschwerpunkte und ihrer wissenschaftlichen Orientierung gliedern.
Anfänge in Hamburg
Anglistik oder „Englische Philologie“ – als Disziplin zur Erforschung von Kultur, Literatur und Sprache Englands – ist ein vergleichsweise junges Fach. Es etablierte sich an deutschsprachigen Universitäten erst in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts. Als der erste Lehrstuhl 1911 in Hamburg eingerichtet wurde, gab es in Deutschland etwa 30 Anglistik-Professoren, die jeweils alleine das gesamte Fach vertraten. Gegenstand waren Literatur und Sprache Englands, noch nicht oder nur am Rande der USA, und auch nicht Landes- oder Kulturkunde. Es ging um Texte, zunächst vor allem um alte, dann auch schöne (d.h. literarische) Texte, mit der Betonung ihrer historischen Dimension. Die Einrichtung einer anglistischen Professur in Hamburg war insofern ungewöhnlich, als die Stadt zu dieser Zeit gar keine Universität besaß. Stattdessen gab es zwei akademische Institutionen: das staatlich verantwortete Allgemeine Vorlesungswesen (1764 von Büsch begründet und 1895 vom Senatssyndikus Werner von Melle reorganisiert) sowie das Kolonialinstitut (1908 durch die Stadt gegründet und vom Reich finanziell gefördert). Richtete sich ersteres an die interessierte Hamburger Öffentlichkeit, so diente letzteres der Ausbildung von Kolonialbeamten und Auslandskaufleuten mit einer Orientierung auf die Praxis und das kommerziell Verwertbare. Als die Bürgerschaft die Finanzierung eines eigenen Gebäudes für die Vorlesungen ablehnte, stiftete der Kaufmann Edmund Siemers ein Zentrum für die wissenschaftliche Bildung, das 1911 eingeweiht wurde und in dem sowohl das Vorlesungswesen als auch das Kolonialinstitut untergebracht wurden – später das Hauptgebäude der Universität (heute ESA 1). Vor bzw. zusammen mit der Einrichtung der Anglistik am Kolonialinstitut entstanden Professuren für Geschichte, Nationalökonomie, Germanistik, Romanistik und Psychologie, unermüdlich befördert durch von Melle, seit 1900 Senator und weiterhin auch für die Wissenschaftlichen Anstalten zuständig. Obwohl bald fast alle Arbeitsbereiche einer Universität am Kolonialinstitut vorhanden waren, stimmte die Bürgerschaft 1913 gegen den durch von Melle initiierten Senatsantrag zur Gründung einer Universität. Erst nach dem Krieg, 1919, begünstigt durch die neue Verfassung und das neue Wahlrecht, war der Antrag erfolgreich: So entstand in Hamburg die erste durch ein parlamentarisches Gesetz geschaffene Universität Deutschlands.
Wilhelm Dibelius (1911 - 1917)
Die praktische Ausrichtung des Kolonialinstituts schlug sich in der für Deutschland einzigartigen Bezeichnung „Seminar für Englische Sprache und Kultur“ nieder, als Programm eines gegenwartsorientierten kulturellen Praxisbezuges. 2000 wurde das Seminar, parallel zu den anderen Seminaren im Fachbereich, umbenannt in „Institut für Anglistik und Amerikanistik“. Entsprechend der Forderung nach Praxisnähe wurden für die Stelle Qualifikationsschwerpunkte sowohl in der Sprach- und Literaturgeschichte Englands und möglichst Nordamerikas als auch in Landeskunde (den „Realien“) erwartet. Berufen und zum 1.3.1911 eingestellt wurde Wilhelm Dibelius. Dibelius hatte sich in Berlin bei dem progressiven Anglisten Alois Brandl habilitiert und war seit 1903 erster Lehrstuhlinhaber an der Königlichen Akademie in Posen. Er hatte zur englischen Sprachgeschichte und vor allem zur neueren britischen Literatur veröffentlicht: Seine strukturanalytisch ausgerichtete Englische Romankunst von 1910 wurde ein Standardwerk; 1916 erschien seine Dickens-Biographie. Dibelius propagierte die Koppelung von Literaturbehandlung mit der Vermittlung der zeitgenössischen Kultur des Landes und wandte sich gegen die positivistische Realienkunde. Pikanterweise war am Kolonialinstitut wie im öffentlichen Vorlesungswesen zugleich der Doyen dieser (ideologie-freien) Realienkunde, der Lehrer Gustav Wendt, mit Lehraufträgen tätig, über seine Pensionierung hinaus bis zu seinem Tod 1932. Dibelius‘ breite literarisch-kulturelle Konzeption schlägt sich in seinen Veranstaltungen nur in Ansätzen nieder: Er liest über Geschichte der englischen Literatur, auch sporadisch über landeskundliche Themen (das gegenwärtige England, das englische Kolonialreich), ergänzt durch englandkundliche Vorlesungen des englischen Lektors; in Kursen liegt das Schwergewicht noch auf Alt- und Mittelenglisch; ein Versuch, modernere Aspekte der Sprache zu behandeln – zum „Neger-Englisch“ – scheiterte dreimal mangels studentischen Interesses. Aufschlussreich für Dibelius‘ Interessenspektrum ist eine Übung zur Romantechnik in Disraelis Coningsby, einem Werk mit jüdischer Thematik des britischen Premierministers jüdischer Herkunft. In der Forderung nach Ergänzung des Literaturstudiums durch kulturkundliche Kenntnisse war Wilhelm Dibelius ein Neuerer in der Anglistik. Jedoch traten diese Tendenzen erst nach seinem frühen Weggang aus Hamburg im Jahre 1917 nach Bonn und dann Berlin stärker in Erscheinung: 1923 veröffentlichte er sein kulturkundliches magnum opus mit dem Titel England; und in Berlin etablierte er die Amerikanistik als eigenes Fachgebiet. Die Kulturkunde – als wissenschaftliche Beschäftigung mit dem fremden Land in seinen vielfältigen geographischen, politischen, wirtschaftlichen, mentalen Aspekten, wie sie sich in dieser Zeit in den Fremdsprachenphilologien formierte – erwies sich als ambivalent. Diente sie ursprünglich der Förderung des Verstehens der fremden Kultur, so wurde sie später, schon in der 20er und vermehrt seit den 30er Jahren, vor allem zur polemischen Abgrenzung und Rechtfertigung der eigenen nationalen Position, des eigenen „Wesens“ eingesetzt (Wesenskunde). Eine derartige Um-Funktionalisierung der kulturkundlichen Perspektive zeigt sich bei Dibelius in seinen Vorträgen nach 1914 für die Hamburger Öffentlichkeit. Hier werden, bedingt durch die Kriegssituation, englisches und deutsches Wesen polemisch einander gegenüber gestellt: Arroganz und Mißgunst gegen Bescheidenheit, Müßiggang gegen Arbeitssamkeit, Egoismus, Zuchtlosigkeit und Entfremdung gegen sittlichen Gemeinschaftsgeist und Ordnungsstaat.
Dibelius‘ früher Weggang im Jahre 1917 war wohl durch die unbefriedigenden Wirkungsmöglichkeit am Kolonialinstitut begründet: Es mangelte an qualifizierten, interessierten Studenten. In anderer Hinsicht aber waren die Arbeitsbedingungen für eine moderne Anglistik optimal, durch die gegenwartsorientierte Denomination des Lehrstuhls und zumal durch die hervorragend ausgestattete Bibliothek: der großzügige Etat wurde ergänzt durch üppige Zuwendungen einer deutsch-britischen Stiftung, deren Vermögen sich allerdings während der Inflation in nichts auflöste.
Emil Wolff (1918 - 1951)
Nachfolger von Dibelius wurde 1918 Emil Wolff aus München, der sich durch breite Belesenheit und weitgespanntes ideengeschichtlich-philosophisches Wissen auszeichnete, jedoch kein Anhänger der Kulturkunde war. Vielmehr vertrat er eine geistesgeschichtlich geprägte Philologie mit Betonung der Bezüge zur griechisch-römischen Antike. Wolff hatte über Francis Bacon und seine Quellen (1909) promoviert und sich mit einer motivgeschichtlichen Untersuchung über die Geschichte der weinenden Hündin (1911) habilitiert (Einsatz der Tränen einer Hündin zu Zwecken der Verführung). Später veröffentlichte Wolff nur einzelne Aufsätze zu Hegels Philosophie, Hegel und Shakespeare, dem Shakespeare-Problem, England und der Antike, Shakespeare und der Antike sowie "Die Goldene Kette: Die Aurea Catena Homeri in der englischen Literatur von Chaucer bis Wordsworth" (zur Kontinuität europäischen Denkens anhand eines antiken Motivs). Eine geistesgeschichtliche Ausrichtung zeigt auch seine Lehre, vor wie nach 1933. Neben einzelnen Veranstaltungen zur englischen Literatur- und Sprachgeschichte liegt das Schwergewicht entschieden auf der Literatur der frühen Neuzeit, vornehmlich Shakespeare; gelegentlich werden Hobbes, Bacon, Locke oder Hume behandelt, kontrastiv dazu die Romantik, das 18. Jahrhundert oder der Roman des 19. Jahrhundert und der Gegenwart; zunehmend auch politik-geschichtliche Themen wie Demokratie in den USA, englischer Parlamentarismus, das englische Weltreich, Politik in England, Entstehung der USA.
Neben Wolffs Lehrstuhl existierte die Stelle einer „wissenschaftlichen Hilfsarbeiterin“ (d.h. Assistentin), seit 1921 mit Marie Schütt besetzt, die mit Arbeiten über Gibbon und seine Quellen promoviert (1923) und über Die englische Biographik der Tudor-Zeit habilitiert wurde (1928), letzteres eine damals große Ausnahme (vor 1945 gab es nur fünf anglistische Habilitationen von Frauen in ganz Deutschland).
Über seine anglistischen Leistungen hinaus ist jedoch Emil Wolffs geistig-politisches Profil und sein dadurch bedingtes öffentliches Wirken an der Universität bemerkenswert. Rasch gewann Wolff die Wertschätzung seiner Kollegen: So wurde er bereits 1921/22 zum Dekan der Philosophischen Fakultät und 1923 trotz seines Alters von nur 44 Jahren zum Rektor gewählt. Philosophisch war er Hegelianer und politisch konservativ, ganz in der Tradition Edmund Burkes, dem Geiste der Aufklärung und des britischen Parlamentarismus. Die Aufgabe der Universität sah er im Humboldt‘schen Sinne in der Ausbildung einer Haltung kritischen Erkennens und Verstehens. Er war ein unbeugsamer Verteidiger der akademischen Freiheit und Autonomie gegenüber jeglichem Eingriff des Staates, wie er in seinen öffentlichen Reden (etwa in seiner Rektoratsrede von 1923) betonte. Früh erkannte er die heraufziehenden Gefahren des Nationalsozialismus und brachte Warnung, Kritik und Ablehnung öffentlich immer wieder zum Ausdruck, am deutlichsten 1932 in einer Denkschrift an Fakultät und Rektor, in der er sich entschieden gegen die vom damaligen Rektor mitgetragene zunehmende Politisierung der Universität wandte. Obwohl seine auch nach 1933 unverändert ablehnende Einstellung allgemein bekannt war und er seine Lehre von nationalsozialistischer Ideologie freihielt, blieb er letztlich unbehelligt, vermutlich aufgrund seines hohen Ansehens und weil er sich loyal seinen akademischen Aufgaben widmete und keinen aktiven Widerstand leistete. In seinem akademischen Unterricht waren die kritische Haltung und die kritischen Zeitbezüge aufgrund seiner charakteristischen Neigung zu abstrakt-philosophischen Ausführungen auf den ersten Blick nicht zu durchschauen. Ein Beispiel für eine versteckt kritische Bezugnahme auf die Gegenwart ist auch Wolffs einzige Veröffentlichung aus dieser Zeit, der Aufsatz „England und die Antike“ (1936, zum 25jährigen des Englischen Seminars, abgewandelt nochmals 1941), in dem er die zivilisatorischen Komponenten der römischen und englischen Kolonisierungspolitik implizit mit den nationalsozialistischen Herrschaftspraktiken kontrastiert. Zur Illustration seiner abweisenden Haltung wird berichtet, dass er stets mit Büchern unter dem Arm das Auditorium betrat, um zur Begrüßung nicht den Arm zum geforderten Hitlergruß heben zu müssen. In der Stadt berühmt waren Wolffs öffentliche Shakespeare-Vorlesungen ab 1942/43, die stets eine sehr große Zuhörerschaft anzogen – Ausdruck für das Bedürfnis der Menschen nach geistiger Belebung und Ablenkung vom trostlosen Alltag. Mit ihrem Ziel der Verbreitung humanistischer Bildung konterkarierten diese Vorlesungen implizit die nationalsozialistische Ideologie. Im Kontext der gesamten Universität stellte das englische Seminar Wolffs so etwas wie eine „Nische der Gedankenfreiheit“ dar.
Eine andersartige Haltung gegenüber dem Nationalsozialismus zeigte Marie Schütt, die 1939 die Stelle einer beamteten außerplanmäßigen Professorin erhielt, nachdem sie 1937 in die Partei eingetreten war und in entsprechenden Gremien mitgearbeitet hatte, offenbar weniger aus Überzeugung denn zur eigenen Existenzsicherung und angeblich, um Wolff zu schützen. Ihre Schriften dieser Zeit – zu Thomas Morus und zur englischen Geschichtsschreibung – verraten jedoch keine nationalsozialistischen Einstellungen.
1945 bis 1947 wurde Wolff zum zweiten Mal Rektor der Universität, diesmal nicht gewählt, sondern aufgrund seiner moralisch-politischen Integrität von der britischen Militärverwaltung eingesetzt. Die Zeit nach 1945 stellt keinen radikalen Neuanfang dar, weder in der Universität noch am englischen Seminar. Belastete Professoren wurden nicht konsequent bestraft oder, wenn entlassen, später wieder eingestellt. In seiner Rektoratsrede sprach Wolff zwar von der Notwendigkeit, an die Zeit vor 1933 anzuknüpfen und sich wieder explizit am Humboldt‘schen Bildungsideal zu orientieren, betonte aber die letztlich ungebrochene Kontinuität der Tradition auch während der nationalsozialistischen Zeit: viele Professoren hätten sich nicht korrumpieren lassen, sondern gewissenhaft ihre Arbeit getan – ein Urteil, das wohl auf einer Mischung von Resignation gegenüber den tatsächlichen Verhältnissen, Korporationsgeist und Bemühung um Versöhnung beruhte. Auch in der Lehre am englischen Seminar trat nach dem Krieg keine entscheidende Änderung ein. Eine Forderung von Studenten nach Modernisierung des Stoffes, d.h. nach Berücksichtigung der Literatur des 20. Jahrhunderts, wurde nicht erfüllt. Wolffs Dienstzeit wurde über seine Emeritierung hinaus bis 1951 verlängert, da sich die Suche nach einem Nachfolger wegen der politischen Belastung vieler älterer und der ungenügenden oder andersartigen Qualifikation jüngerer Anglisten lange hinzog.
Ludwig Borinski und Entstehung der Amerikanistik und Linguistik (50er und 60er Jahre)
Als Wolffs Nachfolger und dritter Lehrstuhlinhaber wurde 1951 schließlich Ludwig Borinski, der wie sein Vorgänger aus München stammte, Sohn des Germanisten Karl Borinski. Er hatte in Leipzig bei Levin Schücking über den Stil König Alfreds: Eine Studie zur Psychologie der Rede promoviert. Wegen seiner jüdischen Herkunft musste er 1933 die Arbeit an seiner Habilitationsschrift abbrechen. Er emigrierte nach England und unterrichtete einige Jahre am Trinity College in Cambridge. Die zur Erlangung des Ph.D. dort eingereichte Schrift „English Ideals in the Age of Shakespeare“ wurde ohne Begründung abgelehnt. Er erkrankte zeitweilig schwer; arbeitete dann als Maschinenschlosser und Metallarbeiter, ein für deutsche Exilanten nicht ungewöhnliches Schicksal. 1945 kehrte er nach Deutschland zurück und arbeitete zunächst für die amerikanische Besatzung, unter anderem als Übersetzer der Kriegstagebücher von Generalstabchef Halder sowie als Verantwortlicher für Erstellung und Druck des Indexes für die Protokolle der Nürnberger Prozesse.
Borinskis Konzept in Forschung wie Lehre war grundsätzlich anders als das von Wolff. Im Gegensatz zu den vorherrschenden „textimmanenten“, ästhetischen Richtungen der Zeit war Borinskis Ansatz dezidiert sozialgeschichtlich und ideologiekritisch, was der Titel der ihm zum 65. Geburtstag im Jahre 1975 gewidmeten Festschrift Literatur als Kritik des Lebens auf den Begriff bringt. Unter der Perspektive der gesellschaftlich-politischen Voraussetzungen von Literatur stehen auch Borinskis Publikationen: Meister des modernen englischen Romans (1963) und Der englische Roman des 18. Jahrhunderts (1968) sowie „Das politische Denken des englischen Humanismus“ (1953), „Englischer Humanismus und deutsche Reformation“ (1969) und Literatur der Renaissance (1975, mit Claus Uhlig). - Eine weitere Veränderung gegenüber seinen Vorgängern betraf sein Bemühen um den Aufbau der Amerikanistik. Die Stelle des wissenschaftlichen Assistenten hatte von 1951 bis 1958 Hans-Joachim Lang inne, der die amerikanische Abteilung der Bibliothek entwickelte, amerika-bezogene Kurse abhielt und sich 1958 bei Borinski mit einer venia legendi unter Einschluss der Amerikanistik habilitierte.
In Umfang und Struktur blieb der Lehrkörper des englischen Seminars vierzig Jahre lang nahezu konstant. Um 1960 begann dann eine Phase der fortschreitenden personellen Erweiterung, die ihren Höhepunkt in den frühen 80er Jahren erreichte und seitdem kontinuierlich wieder zurückgenommen wird. Als erstes wurde 1958 ein zweiter Lehrstuhl für englische Philologie unter besonderer Berücksichtigung der Literatur und Kultur Nordamerikas eingerichtet und mit Rudolf Haas besetzt. Haas‘ Veröffentlichungen wie auch seine Veranstaltungen galten sowohl britischen als amerikanischen Themen und waren vielfach interpretationspraktisch und vergleichend orientiert. Promoviert hatte er über Shakespeare (1952), sich habilitiert über Krieg und Krise im modernen englischen und amerikanischen Roman (1958). Seine späteren Bücher, an Studenten wie Lehrer gerichtet, führen ein in die Interpretation englischer Lyrik und anglo-amerikanischer Prosa sowie in die amerikanische Literaturgeschichte. – Ein zweiter Neuzugang war Johannes Kleinstück, der 1953 die Stelle von Marie Schütt als „Oberassistent“ übernahm, sich 1954 über Chaucers Stellung in der Mittelalterlichen Literatur bei Borinski habilitierte und 1969 den neu geschaffenen dritten literaturwissenschaftlichen Lehrstuhl erhielt. Seine Lehre umfasste unter anderem anglo-irische Literatur, den modernen Roman und die Lyrik. – 1963 wurde schließlich ein sprachwissenschaftlicher Lehrstuhl eingerichtet und mit Broder Carstensen besetzt, einem Vertreter der neuen Transformationsgrammatik.
Zusätzlich zu den Professoren wurden in diesen Jahren die Stellen im „Mittelbau“, der Assistenten, Räte und Lektoren, erheblich vermehrt. Die Lehre konzentrierte sich jetzt entschieden auf zwei Komplexe – Shakespeare und das 20. Jahrhundert. Grund für die Ausweitung des Lehrpersonals war die rapide Zunahme der Studentenzahlen: Waren es Anfang der 50er Jahre ca. 500, so stieg die Zahl 1969 auf nahezu 2000 und blieb über viele Jahre auf diesem Niveau. Damit war das Hamburger Englische Seminar zu der Zeit das mit Abstand größte in Deutschland (das nächst größere war Tübingen mit 1300 Anglistikstudenten).
Räumliche Situation und Wandel seit 1963
Die 60er Jahre brachten ferner eine entscheidende Veränderung für die räumliche Unterbringung der Anglistik (wie auch anderer Philologien): 1963 konnte das Seminar in den fertig gestellten Philosophenturm umziehen, wo es bis heute loziert ist. Hier sei ein Überblick über die wechselvolle Raumgeschichte des Instituts eingefügt. Bei seiner Gründung war das Seminar im Hauptgebäude untergebracht; 1914 zog es in die Rothenbaumchaussee Nr. 36 (hier nebenan), 1929 dann in die Rothenbaumchaussee 5, wo es (mit einem kurzen Zwischenaufenthalt in Nr. 7, 1945/46) blieb, bis es 1949 in die Moorweidenstraße 18 (dem jetzigen Verwaltungsgebäude) verlegt wurde und 1957 schließlich nach Pöseldorf, in eine (inzwischen abgerissene) Villa am Harvestehuder Weg 11, hinter der jetzigen Musikhochschule.
Die Jahre nach 1968 markieren in Universitätsorganisation und Studienstruktur einen Einschnitt. Die Studentenrevolte verlief am Englischen Seminar harmloser als z. B. in der Germanistik. Anglistik-Studenten waren weniger politisiert und radikalisiert; Gegenstand des Studiums war eine fremde Literatur und Kultur statt der erkennbar ideologie-anfälligen eigenen; und die allgemeine Forderung nach Ideologie-Kritik und Gesellschaftsrelevanz in Lehre und Forschung war hier bereits ansatzweise erfüllt. So gewann der persönlich eher scheue und unnahbar wirkende Borinski ungewollt den Status einer Leitfigur der Veränderungsforderungen. Im Zuge der Reform wurden in Hamburg die übergroß gewordenen Fakultäten aufgelöst und durch kleinere Fachbereiche ersetzt. Das englische Seminar gehörte jetzt zum Fachbereich 07, „Sprachwissenschaften“, eine einseitige Bezeichnung, die der damals dieser Disziplin zugeschriebenen Leit- und Modernisierungsfunktion für die Geisteswissenschaften geschuldet war. Die Studienreform verfolgte zwei Ziele: zum einen den Studienablauf klarer zu strukturieren, z. B. durch Einrichtung von Einführungskursen, und die Vermittlungsmethoden zu optimieren, z.B. durch Einführung von Gruppenarbeitszeiten, zum andern die Inhalte zu modernisieren, z. B. durch Theorie- und Methodenreflexion. In diesen Jahren verschob sich allmählich die Art der Abschlüsse vom Staatsexamen zum Magister – vor dem Hintergrund einer zunehmend schwierigen Arbeitsmarktsituation für anglistische Absolventen: Einstellungsstopps an Schulen bzw. Zwang zur größeren Eigeninitiative und Flexibilität in der Wirtschaft.
Personelle und institutionelle Entwicklungen von 1978 bis 2011
Zum Abschluss gebe ich einen gedrängten Abriss über die weiteren personellen und institutionellen Entwicklungen am Englischen Seminar bis in die 90er Jahre sowie einen Überblick über den jetzigen Stellenbestand. Zum einen ist über die späteren Inhaber der vier Lehrstühle (die in der Reformuniversität nicht mehr so hießen), zum andern summarisch über die Schaffung und Abschaffung neuer Stellen zu berichten. Borinskis Nachfolger und vierter Stelleninhaber seit Dibelius wurde 1978 (bis 1997) Dietrich Schwanitz, der einen Schwerpunkt auf Shakespeare, Geschichte des Dramas und Theorie legte sowie 1979 die studentische Theatergruppe, die University Players, gründete und betreute. Deren Aufführungen, die nun schon eine Tradition von über 30 Jahren aufweisen, fanden große anhaltende Resonanz in der Hamburger Öffentlichkeit und stellen einen wichtigen, weithin sichtbaren Beitrag für das kulturelle Leben der Stadt dar. Jetziger Stelleninhaber ist Prof. Dr. Norbert Greiner. – Auf Kleinstücks Stelle wurde 1983 (bis 2010) Johann Schmidt berufen, mit Schwerpunkten in Forschung und Lehre u. a. im 18. und 19. Jahrhundert, dem Film und der Architektur. Jetzige Stelleninhaberin ist Prof. Dr. Ute Berns. – Die amerikanistische Stelle von Haas hatte Joseph Schöpp von 1989 bis 2005 inne: Seine Interessengebiete waren unter anderem der postmoderne Roman, das frühe 19. Jahrhundert sowie Lyrik. Jetzige Stelleninhaberin ist Prof. Dr. Susanne Rohr. – Die Geschichte des Linguistiklehrstuhls, schließlich, war anfangs durch hohe Fluktuation geprägt. Nach Carstensens abruptem Weggang 1969 folgten bis 1992 in raschem Wechsel sechs Berufungen (von denen zwei die Stelle gar nicht erst antraten), ehe Mitte der 90er Jahre Stabilität einkehrte. Jetziger Stelleninhaber ist Prof. Dr. Thomas Berg.
Die andere Entwicklung seit den 70er Jahren betrifft die Schaffung neuer Professuren, im Wesentlichen in zwei Phasen einer gesetzlich vorgeschriebenen Überleitung der Assistenten und Räte in neuartige C2-Professoren, sofern sie habilitationsadäquate Publikationen aufwiesen, was durch Überleitungskommissionen geprüft wurde. Eine vorgezogene Überleitung fand 1977 statt, die gesetzliche 1982. Diese Maßnahme diente der Bewältigung der nach wie vor unverhältnismäßig hohen Studentenzahlen und war zudem deutlich kostengünstiger als die Einrichtung neuer Professuren alten Stils. Hiermit wurde das Lehrangebot in Anglistik, Amerikanistik und Linguistik erheblich erweitert, zusätzlich in Wirtschaftsenglisch. Auf dem Höhepunkt dieser Entwicklung, um 1984, umfasste das Englische Seminar 14 Professoren, 4 Dozenten und 7 Assistenten. In der Folge wurde zuerst die Zahl der Assistenten auf eine Stelle für je vier Professuren gesenkt. Und seit den 90er Jahren reduzierte die Universität im drängenderen Sparzwang kontinuierlich die Anzahl der Stellen (und damit die Weite und Nachhaltigkeit des Lehrangebots) durch Verlagerung in andere Fächer und Studiengänge auf das heutige Niveau: insgesamt 8 1/2 Professuren und 3 Juniorprofessuren in den drei Fachrichtungen Anglistik, Amerikanistik, Linguistik, eine Reduktion auf weniger als die Hälfte. Aus diesem Bestand sind erhalten eine Stelle in der Anglistik: Inhaberin Prof. Dr. Susanne Rupp, anderthalb Stellen in Amerikanistik: Inhaber(in) Prof. Dr. Astrid Böger und Prof. Dr. Hans Peter Rodenberg (zur Hälfte der Medienwissenschaften zugeordnet) sowie zwei Stellen in der Linguistik: Prof. Dr. Peter Siemund und Prof. Dr. Anatol Stefanowitsch. Hinzu kommen pro Fachrichtung eine Juniorprofessur: Prof. Dr. Ralf Hertel in Anglistik, Prof. Dr. Alexander Meier-Dörzenbach in Amerikanistik und Prof. Dr. Eva Berlage in Linguistik.
Ausgewählte Literatur
Becker, Thomas. Anglistik in Hamburg: Untersuchungen zur Geschichte des Seminars für Englische Sprache und Kultur. Hamburg: MA-Arbeit, 1991
Finkenstaedt, Thomas. Kleine Geschichte der Anglistik in Deutschland. Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft, 1983.
Finkenstaedt, Thomas & Konrad Schröder. Englische Philologie, Anglistik und Amerikanistik: A Survey of English Studies. People – Places – Publications. Presented to the participants of the IAUPE-Conference at Hamburg. Wildsteig und Haunstetten, 1983.
Hausmann, Frank-Rutger. Anglistik und Amerikanistik im „Dritten Reich“. Frankfurt/Main: Vittorio Klostermann, 2003.
Holtmann, Michael. Die Universität Hamburg in ihrer Stadt: Bauten, Orte und Visionen in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Universität Hamburg, Print & Mail, 2009
Lütjen, Hans Peter. „Das Seminar für Englische Sprache und Kultur 1933 bis 1945. In: Hochschulalltag im ‚Dritten Reich‘“. Die Hamburger Universität 1933-1945. Hg. von Eckart Krause, Ludwig Huber, Holger Fischer. 3 Bände. Berlin/Hamburg: Dietrich Reimer Verlag, 1991, 737-756.
Nicolaysen, Rainer. „Frei soll die Lehre sein und frei das Lernen“: Zur Geschichte der Universität Hamburg. Hamburg: Wiss. Verlag Dokumentation und Buch [DOBU], 2008.
Settekorn, Wolfgang & Hans Peter Lütjen. „Der Fremde als Feind? Zur Rolle der Fremdsprachenphilologie zwischen 1900 und 1933“, 1933 in Gesellschaft und Wissenschaft: Ringvorlesung im WS 1982/83 und SS 1983, Teil 2: Wissenschaft. Hamburg. Pressestelle der Universität Hamburg, 1984, 43-72