Folkloristische Betrachtungen
Die Natur in der Märchenfolklore
Überlieferungen und Märchen haben häufig einen Bildungsauftrag, die so genannte Moral der Geschichte. Bei den uralischen Völkern steht die Natur im Zentrum des täglichen Lebens, somit sind Flora und Fauna in der Märchenfolklore relevante Themen, zu denen wir Ihnen heute drei Märchen zweier Völker des INEL-Erhebungsgebiets vorstellen. Alle Märchen und viele weitere Überlieferungen können Sie in unseren Korpora im INEL-Ressourcen Portal nachlesen.
Die Schneeeule
Im Dolganischen wird das Märchen „Lenkej“ erzählt, dies heißt übersetzt „Die Schneeeule“. Dieses Märchen spielt vor langer Zeit in einem warmen Land, in dem es unerwartet kalt wird. Die Vögel haben Angst zu erfrieren und treffen sich zu einer Versammlung der Vögel. Eine Gans, die die Anführerin der Vögel ist, berichtet von einem Land, in dem es keinen Winter gibt und schlägt vor, die kalte Zeit dort zu verbringen. Es wird einstimmig beschlossen gen Süden zu fliegen.
Allerdings haben die kleinen Vögel Angst von den Schneeeulen gefressen zu werden und möchten nicht, dass diese mitgenommen wird. „Da sagten alle Vögel: 'Hier nämlich ernährt sich die Schneeeule von unseren Familien. Und auch, wenn sie dorthin geht, wird sie das nicht sein lassen. Wir nehmen sie nicht mit! '" Somit beschließt die Versammlung, dass die Schneeeule in der Kälte bleiben muss und nicht mit in den Süden fliegen darf. Der Schneeeulenmann, der an der Versammlung teilgenommen hat, fliegt zu seiner Frau und teilt ihr die Entscheidung mit. Er bittet seine Frau ihm einen warmen Mantel aus dem Pelz einer Largha-Robbe zu nähen, so weiß wie der Schnee, damit sie vor der Kälte geschützt sind. So können Sie auch im kalten Winter im Norden leben.
Dieses Märchen erzählt, warum die Schneeeulen, im Gegensatz zu vielen anderen Vögel auf der Taimyrhalbinsel, keine Zugvögel sind, sondern auch im Winter dort bleiben.
Fuchs und Bär
Die Rollenverteilung im ewenkischen Märchen vom Fuchs und dem Bären ist uns bekannt: ein listiger Fuchs macht einen bösen Scherz auf Kosten des großen, starken Bärens. Die beiden treffen im Winter in der Taiga aufeinander und der Fuchs tut so, als ob er etwas isst. Der Bär fragt nach und bekommt vom Fuchs die Antwort er solle seinen Schwanz in ein Eisloch halten, dann würde daran Talg entstehen. Der Bär befolgt den Rat, allerdings friert sein Schwanz ab. Ein Eichhörnchen verspottet den schwanzlosen Bären. Dieser sucht nach dem Fuchs, kann seine Spuren aber nicht finden, da der Fuchs sie mit seinem Schwanz verwischt hat. Daraufhin versteckt er sich in einer Höhle und verschläft den Winter.
Diese Geschichte erklärt, warum Bären keine langen Schwänze haben und Winterschlaf halten.
Die Maus und das Rentier
Das dolganische Märchen "Kutujagɨ gɨtta taba", übersetzt heißt es „Die Maus und das Rentier“, erzählt die Geschichte von einer Maus und einem Rentier, die zusammen verstecken spielen. Zuerst versteckt sich das Rentier, die Maus findet es. Anschließend versteckt sich die Maus und das Rentier kann sie einfach nicht finden. Als seine Kräfte zu schwinden beginnen, schnuppert das Rentier nach der Maus. Da es die Maus bis heute nicht gefunden hat, schnuppert es noch immer mit der Schnauze am Boden.
Diese Überlieferung gibt eine märchenhafte Erklärung für das am Boden Schnuppern der Rentiere. Eine andere Erklärung wäre, dass sie am Schnee schnuppern, um herauszufinden ob sich Flechten darunter verbergen und es sich lohnt den Schnee wegzuscharren.
Parallelen in der Märchenfolklore
Häufig haben Überlieferungen benachbarter Völker ähnliche Narrative, Elemente und moralische Motive. Ein in kamassichen und selkupischen Erzählungen vorkommendes und uns, basierend auf den Überlieferungen der Gebrüder Grimm, unbekanntes Motiv ist der nur-Kopf. Im Kamassischen kur-ulu (nur-Kopf) und im Selkupischen qun-ol-laga (Menschen-Kopf-Stück) genannt, bewegt sich diese Figur rollend und versorgt erfolgreich einen ganzen Hof, indem es Gegenständen Kommandos gibt. In dem selkupischen Märchen vom Kopf ohne Körper befiehlt der nur-Kopf zum Beispiel den Hoftoren sich zu öffnen und er befiehlt die Suppe auf den Tisch. Diese magischen Kräfte ermöglichen dem nur-Kopf ein gutes Leben.
In beiden Märchen geht es um das Aufeinandertreffen der ursprünglichen eigenen Jägerkultur auf die neuere auf Vorratshaltung basierende Lebensweise, in der kamassischen Erzählung ist explizit die von türkischen Viehzüchtern eingeführte neue Kultur gemeint. Der nur-Kopf repräsentiert den Viehzüchter, die Protagonistin und ihr Mann sind Jäger. Die Jäger sind arm und leiden Hunger, im Gegensatz dazu ist der Viehzüchter wohlhabend und gut versorgt. Der Jäger verjagt auf Grund der Nahrungsknappheit seine Frau, welche den Hof des nur-Kopfs findet. Er wird von der Frau umgebracht und der Hof übernommen. In der kamassischen Erzählung schafft es das Paar nicht den Hof zu halten, die Frau kann aber die fliehenden Nutztiere mit einer Zauberformel in Jagdwild verwandeln. Bei den Selkupen bleibt die Jägerin auf dem Hof, den sie bewirtschaftet, und nimmt ihren Mann später bei sich auf.
Quelle: Klumpp, G. 2010: Kamassisch-Selkupisch-Ketische Parallelen in der Märchenfolklore. Finnisch-Ugrische Mitteilungen 32/33: 297-31
Geschichten über Schamanen in der Folklore der Nganasanen
Der Schamane ist eine sehr wichtige Figur im Leben vieler Völker, so auch bei den Nganasanen. So ist es nicht verwunderlich, dass Geschichten über die Taten von Schamanen einen eigenen Platz in der Folklore eines der nördlichsten Völker der Welt einnehmen. Heute stellen wir Ihnen vier Geschichten der Nganasanen vor, diese und viele weitere Überlieferungen können Sie in unseren Korpora im INEL-Ressourcen Portal nachlesen.
In diesen Geschichten helfen Schamanen in der Regel den Menschen, sich von Krankheiten oder Hunger zu befreien, wie z.B. in den Geschichten „Schamanin Nejming“ und „Der tauchende Schamane“. Es kann sich um Geschichten über bedeutende Schamanen eines bestimmten Clans handeln, die ihren Clan verflucht haben („Huale-Schamane“, „Der tauchende Schamane“), oder z. B. über weibliche Schamaninen wie in der Erzählung „Schamanin Nejming“. Auch Namen geografischer Einheiten können mit diesen Geschichten in Verbindung gebracht werden wie die Geschichten „Der tauchende Schamane“ und „Huale-Schamane“ zeigen. In der Geschichte „Feuerschlitten“ wird das Auftreten von Feuer auf die Tätigkeit eines Schamanen zurückgeführt. Manchmal müssen der Schamane oder sein Volk einen hohen Preis für ihre Taten zahlen, bis hin zu Menschenopfern („Huale-Schamane“, „Feuerschlitten“).
Huale-Schamane
Es lebte einmal ein Schamane des Huale-Clans, der seine Macht vergrößern wollte. Er zwang die Menschen, ein Waisenmädchen zu töten, um aus ihrer Haut ein Tamburin herzustellen. Ihr Verlobter wurde in der Zeit auf die Jagd geschickt. Dann begann der Schamane Huale in der Nähe eines Hügels zu schamanisieren. Dieser Hügel wurde dann Tamburin-Klingel („Hensire soibamu“), genannt.
Eines Tages danach ging der Schamane Huale auf die Jagd und traf ein nacktes Mädchen - den Geist des Mädchens, aus dessen Haut er einst sein Tamburin gefertigt hatte. Die Frau sagte zu ihm: „Wenn du mich fängst, wirst du ein noch stärkerer Schamane werden, und wenn du mich nicht fängst, wird dein Clan verflucht werden.“ Das Mädchen lockte den Schamanen in eine Fallgrube, und er starb dort. Und alle Menschen seines Klans begannen zu sterben.
Schamanin Nejming
Es gab eine Schamanin namens Nejming. Niemand heiratete sie, denn alle hatten Angst vor ihrem Schamanismus. Eines Tages wurden alle Menschen im Lager krank, außer ihr. Da sprach ein junger Geist zu ihr: „Du bist gut, und deine Helfer sind gut, heirate mich, dann werden alle gesund“. Neiming willigte ein, ihn für drei Jahre zu heiraten, dann wurden die Menschen wieder gesund. Sie bekam zwei Kinder, Lambie und Dyaryka, die beide später Schamanen wurden. Und als sie noch schwanger war, zog sie ihr Schamanen-Kostüm aus, bat darum, ein Eisen loszubinden und es in ihren Overall zu stecken. Und als sie schwanger war und fing an zu schamanisieren, verschwand ihr Bauch, der wurde leer.
Der tauchende Schamane
In einem Hungerjahr tauchte der Schamane Hotarye für lange Zeit in den See, um seinem Volk zu neuem Glück bei der Jagd und beim Fischfang zu verhelfen. Er band sich selbst mit einem Seil fest und ließ dessen Ende draußen. Er befahl den Leuten, das Seil nicht zu berühren, bis er wieder selbst herauskommen würde. Eines Tages beschlossen die Jugendlichen, an dem Seil zu ziehen, aber sie kriegten Angst vor dem, was aus dem See kam, und ließen das Seil los. Der Schamane kam für eine Weile heraus, um zu sagen, dass nun alle aus seinem Clan beim Schwimmen ertrinken würden. Und seither heißt dieser See Schamanensee.
Feuerschlitten
Es war einmal ein alter Enets Mann, der war so etwas wie ein Schamane. In einem Traum hörte er eine Stimme, die zu ihm sagte: „Um den Menschen Feuer zu geben, töte deine Tochter, schneide ihre Milz heraus und mache ein Feuer daraus.“ Der alte Mann tat, was die Stimme sagte. Dann begrub er seine Tochter und machte ein Holzidol - eine weibliche Figur, und er machte auch einen Schlitten für das Holzidol. Und dieser Schlitten mit dem Holzidol wurde Feuerschlitten genannt, und er konnte nur durch die männliche Linie weitergegeben werden.