Der Jahreslauf bei den Waldnenzen
Im Gegensatz zu dem in der westlichen Welt verwendeten Konzept ein Jahr abhängig von astronomischen Ereignissen in Monate zu unterteilen, orientieren sich die Waldnenzen an ihrem Umfeld und leiten die Einteilung der Zeit von wiederkehrenden Naturphänomenen ab. Wiederkehrende Ereignisse die das Jahr bei den Waldnenzen gliedern, wie zum Beispiel die Ankunft des Adlers, treten abhängig vom Klima und nicht zu bestimmten Kalenderdaten ein - somit gibt es hier keine statischen Daten für den Beginn und das Ende eines Monats. Im Folgenden können Sie lesen, welcher Ausdruck zeitlich in etwa unserem jeweiligen Monat entspricht.
Der Januar ist der Monat des kalten Wetters.
In Sibirien kann es sehr kalt werden, insbesondere um den von als Januar bezeichneten Zeitraum herrschen Minustemperaturen, die uns hier in Hamburg unvorstellbar kalt vorkommen.
In Sibirien herrscht ein raues Klima, die kälteste Winterperiode geht von etwa Mitte Dezember bis Ende Januar. Die Taimyrhalbinsel liegt in ihrem äußersten Norden rund 1.300 km nördlich des nördlichen Polarkreises und gehört damit zum Polargebiet. Die durchschnittlichen Höchsttemperaturen in den Monaten Dezember bis März liegen bei etwa höchstens -24 ˚C, die niedrigsten Temperaturen liegen durchschnittlich unter -30 ˚C. Nicht selten kommen Extremwerte von -60 ˚C vor. Der Boden ist fast zwei Drittel des Jahres mit Schnee bedeckt, nur in den Monaten Juni, Juli und August liegen die Temperaturen auf der Taimyrhalbinsel über 0 ˚C.
Im Winter ist es auf der Taimyrhalbinsel nicht nur sehr kalt, sondern die Tage sind auch sehr kurz: die Polarnacht, ein Zeitraum in dem die Sonne nicht über den Horizont steigt, beginnt etwa Ende November und endet etwa Mitte Januar. Die Waldnenzen nutzen diesen Zeitraum für eine winterliche Ruhepause: die Jagd wird eingestellt, die kommende Jagdsaison vorbereitet.
Quelle: Kusterer, K. 1987: Die Jagd im Leben der Völker Westsibiriens (Europäische Hochschulschriften, 19; Abt. B, Ethnologie, 14)
Februar ist der Monat der ersten Ankunft des Adlers: Da es noch kalt ist, fliegt der Adler weg.
Wie im Text für den Januar erläutert, ist es im Winter sehr kalt auf der Taimyrhalbinsel. Da ist es kein Wunder, dass Adler zwar am Himmel gesichtet werden, aber auch direkt wieder umkehren und vorerst in wärmeren Gebieten bleiben.
März ist der Monat der Ankunft des echten Adlers: Der Adler kommt aus dem Süden.
Bei den Waldnenzen sind Februar und März die Adlermonate, ihnen liegt eine doppelte Benennungsmotivation zugrunde. Einerseits kehrt der Adler im Frühjahr wieder in das mittlere und nördliche Sibirien zurück, andererseits ist er das Symbol für die Wiederkehr der Sonne.
Die erste funktionale Äquivalenz scheint eine andere Adlerart zu bezeichnen. In der zweiten funktionalen Äquivalenz tritt das oft gebrauchte Motiv `falsch – echt‘ auf. Nach Harva dienen derartig doppelt belegte Benennungsmotive als Schaltmonate in Jahren, in denen lediglich 12 Lunationen stattfinden (zitiert nach Sobanski, K.-F. 1995: Untersuchung der Monatsnamen samojedischer Sprachen:S. 56). Die Chanten, sozusagen die Nachbarn der Waldnenzen, benennen diese Zeiträume als `lügenhafter Adlermonat‘ und `wahrer Adlermonat´, was eine Variante von echt und unecht ist.
Quelle: Sobanski, K.-F. 1995: Untersuchung der Monatsnamen samojedischer Sprachen (Wissenschaftliche Hausarbeit zur Erlangung des akademischen Grades eines Magister Atrium der Universität Hamburg)
April ist der Monat der Krähe: die Krähe kommt an.
Im April wird es wieder wärmer und Krähen, die den Winter bei uns in Europa verbracht haben, fliegen zurück gen Osten, so auch zu den Waldnenzen in die Taiga-Region des mittleren Ob. Mit den milderen Temperaturen erwachen die Insekten aus ihrer Winterstarre und Regenwürmern werden wieder aktiver, das Futterangebot entspricht dem Speiseplan der Krähen.
Laichmonat Mai: Die Fische beginnen zu laichen.
Rentiere begleiten das Leben der Waldnenzen das ganze Jahr über, gleichzeitig sind Jagd und Fischfang wichtige Nahrungslieferanten. Den Fischen ist mit dem Mai sogar ein ganzer Monat gewidmet.
Folgender Text aus dem Nenzischen über Fische und das Fischen, der Teil unseres INEL-Nenzisch-Korpus‘ ist, zeigt die Relevanz des Laichmonats für die Waldnenzen. Hier wird gleichermaßen der Kreislauf des Lebens hervorgehoben, als auch Fisch als Nahrung und zum Erwerb des Lebensunterhalts thematisiert.
„Fische, Fischen.
Fische leben im Wasser. In den Seen in unserem Land leben viele Fische. In großen Seen, in Seen im Frühjahr laichen Fische. Sie legen Eier ins Wasser ab. Aus diesen Eiern schlüpfen kleine Fische.
Wenn sie heranwachsen, fangen wir diese Fische mit Netzen, Angeln und Vorderladern. In den großen Städten werden aus diesem Fisch Fischkonserven hergestellt. Dieser Fisch wird getrocknet, gebraten und gegessen. Bei uns wird aus dem Fischrogen eine leckere Suppe gekocht.
Ich wünschte, unser Land wäre immer so!“
Monat des Kükenschlupfes - Juni: Die kleinen Küken schlüpfen aus den Eiern.
Im Juni ist es bei den Waldnenzen soweit – die Küken der Wildvögel schlüpfen!
Viele Entenvögel verbringen ihre Sommermonate in der Taiga-Region des mittleren Ob bei den Waldnenzen und bekommen dort ihren Nachwuchs. Wichtige Entenvögel sind für die Jäger sind neben den Graugänsen auch Bleß- und Zwerggänse und zum Beispiel Spieß- und Pfeifenten. Die Hühnervögel in Westsibirien sind keine Zugvögel und können das ganze Jahr über gejagt werden. Besonders interessant ist für die Waldnenzen zum Beispiel das Moorschneehuhn, da es sich im Herbst in der Tundra zu Schwärmen sammelt und die kalte Jahreszeit in der Waldzone verbringt.
Monat der Schwanenmauser - Juli: Der Schwan mausert sich.
Die Mauser von Entenvögeln findet etwa in einem Zeitraum statt, der unseren Monaten Juni, Juli und August entspricht. Heute erzählen wir Ihnen, warum die Mauser so wichtig für die Waldnenzen und Ihr sogar ein Monatsname gewidmet ist.
Die Mauser ist bei vielen Vögeln ein sukzessiver Prozess über zwei bis drei Monate. Einem festen Ablauf folgend erneuert sich das Gefieder, damit die Flugfähigkeit erhalten bleibt. Bei den männlichen Entenvögeln hingegen ist der Ablauf sehr zügig, das Gefieder erneuert sich in kurzer Zeit vollständig. Für Jäger ist dies von großer Bedeutung: gegen Ende der Brutzeit der Weibchen sammeln sich die Männchen in sehr großen Schwärmen und treffen sich an festen Mauserplätzen, um dort die Zeit ihrer Flugunfähigkeit verbringen. Diese Zeit ist die größte Saison der Jagd auf große Wasservögel. Mit einfachsten Methoden können große Mengen Vögel erbeutet werden, so daß der Vorrat an konserviertem Geflügel oft bis in den Winter hinein reicht.
Quelle: Kusterer, K. 1987: Die Jagd im Leben der Völker Westsibiriens (Europäische Hochschulschriften, 19; Abt. B, Ethnologie, 14)
August ist der Monat, in dem die Flüsse vor dem Herbst überflutet werden: Dann wird ein neuer Flechtzaun ins Wasser gesetzt.
Wie bereits im Mai beschrieben, ist der Fischfang bei den Waldnenzen ein wichtiger Nahrungslieferant.
Das ganze Jahr über werden Fische gefangen, allerdings in Abhängigkeit der Jahreszeiten mit unterschiedlichen Methoden. Die Art des Fischfangs lässt sich in drei Kategorien unterteilen:
1. Fischfang, wenn das Wasser nicht gefroren ist,
2. Fischfang, wenn sich Eis auf dem Wasser zu bilden beginnt, welches noch nicht trägt und
3. Fischfang, wenn das Eis trägt.
In dem Zeitraum, der bei uns in etwa den Monaten April bis August entspricht, sind die Gewässer eisfrei und Fische können mit Wehren, Netzen und Angeln gefangen werden. Sobald die Temperaturen sinken und sich erstes Eis auf den Gewässern bildet, dienen die Wehre als hauptsächliche Fischfangtechnik – deshalb müssen bereits im August die Flechtzäune erneuert werden.
Ab September werden Fische mit Reusen gefangen, die in ebendiesen Flechtzäunen befestigt sind. Diese Konstruktion nennt man Wehr. Die Wehre sind so stabil, dass man auf ihnen gehen, die Reusen aus dem Wasser holen und die Fische entnehmen kann.
Ende November bis Ende März sinken die Temperaturen so stark, dass die Eisdecke die Menschen trägt. Es werden Löcher in das Eis geschlagen, Fische werden zu dieser Zeit unter der Eisschicht mit Netzen gefangen
Quelle: Spodina, V. I. 2022. Ne tol‘ko oleni: rybolovnaya kul’tura lesnykh nencev bassejna reki Agan. Khanty-Mansijsk: Pechatnyj mir g. Khanty-Mansijsk
September ist der Monat des Laubfalls: Die Blätter fallen von den Bäumen.
Bei den Waldnenzen beginnt der Herbst früher als bei uns – bereits im August färben sich die Blätter bunt, etwa zur Zeit unseres Septembers beginnen die Blätter zu fallen.
Wenn die Blätter von den Bäumen fallen beginnt auch das Absterben des Grases, die Vegetation in Sibirien zieht sich zurück. Laubbäume in den Wäldern auf der Taimyr-Halbinsel und am Jenissei sind insbesondere Birken, aber auch Erlen, Pappeln und Weiden.
Birken waren früher für die Waldnenzen ein wichtiger Materiallieferant. Aus den Stämmen wurden Pfeiler für die Zelte gefertigt und aus der im Frühling geernteten Birkenrinde Sommerzeltplanen genäht. Des Weiteren wurden aus Birkenrinde Körbe und Gefäße für die Lagerung von Lebensmitteln aber auch für die Jagd, wie zum Beispiel Köcher für Pfeile, gefertigt. Die Stabilität und gleichzeitige Flexibilität der Birkenrinde ermöglicht die Herstellung vielfältiger Gefäße, die leicht und langlebig waren. Zum Glück ist diese Handwerkskunst nicht vollständig verloren gegangen und es werden noch heute Gefäße aus Birkenrinde gefertigt.
Oktober ist der Monat der Rentierbrunft: die Männchen brunften.
Oktober ist bei den Waldnenzen der Monat der Rentierbrunft. Die Rentierbrunft beginnt in Westsibirien Mitte September, die Tiere sammeln sich in gemischten Rudeln auf Anhöhen oder in der Nähe von Tränken. Der Hirsch ist in dieser Zeit durch sein Schnauben und vor allem durch seinen Geruch bemerkbar.
Die beste Fleischqualität hat das Ren im Herbst vor der Brunft: die Tiere sind fett, einige Exemplare liefern über 100 kg Wildbret. Mitte Mai bis Anfang Juni setzten die Kühe ein Kalb; zwei Kälber in einem Wurf sind selten.
Quelle: Kusterer, K. 1987: Die Jagd im Leben der Völker Westsibiriens (Europäische Hochschulschriften, 19; Abt. B, Ethnologie, 14)
November ist der Monat des Geweihabwurfs: reife Männchen werfen ihr Geweih ab.
Bei den Rentieren entwickeln beide Geschlechter im Laufe der Jahre ein vielendiges Geweih. Die Hirsche werfen ihr Geweih nach der Brunft ab – dies geschieht bei den Rentieren der Waldnenzen etwa zu der Zeit, die wir als November bezeichnen. Die Kühe werfen ihr Geweih nicht im November ab, sondern nach dem Setzen, etwa Mitte Mai bis Anfang Juni. Ab April wächst beim männlichen Ren das neue Geweih, das sich erst im Juli vollständig erhärtet.
Die unterschiedlichen Zeiten des Geweihabwurfs bei Männchen und Weibchen leitet sich aus dem abweichenden Nutzen des Geweihs ab. Für die Männchen ist das Geweih während der Paarungszeit wichtig, da sie mit einem großen Geweih die Weibchen beeindrucken und für sich gewinnen sowie andere Männchen in Kämpfen um Reviere und Weibchen besiegen können. Die Weibchen verteidigen ihr Revier ebenfalls mit ihrem Geweih, darüber hinaus ist es für sie aber wichtiger im Winter, wenn sie trächtig sind, mit Hilfe ihres Geweihs Nahrung zu finden.
Quelle: Kusterer, K. 1987: Die Jagd im Leben der Völker Westsibiriens (Europäische Hochschulschriften, 19; Abt. B, Ethnologie, 14)
Dezember ist der Monat des Abwurfs der Hörner junger Männchen: Junge Männchen werfen ihre Hörner ab.
Die Waldnenzen unterscheiden in ihrem Jahreslauf zwischen der Zeit, in dem die ausgewachsenen Rentierochsen ihr Geweih abwerfen und der, in dem die jüngeren ihr Geweih abwerfen.
Nach dem ersten Lebensjahr beginnt das Geweih der Rentiere zu wachsen. Mit zunehmendem Alter produzieren Rentierochsen mehr Testosteron, was zu einem stärkeren Wachstum des Geweihs führt. Nach der Paarungszeit sinkt der Testosteronspiegel bei den älteren Tieren dann wieder stark ab, wodurch die Durchblutung des Geweihs verringert wird. Ältere Rentierochsen verlieren daher früher ihr Geweih im Vergleich zu jüngeren Tieren mit weniger starken Schwankungen im Testosteronspiegel.