Ziele und Ergebnisse

Ziel des Projekts war es, die erste systematische und umfassende syntaktische Beschreibung des Süd- und Zentralselkupischen anzufertigen. Das Selkupische ist extrem vom Aussterben bedroht. Da die noch vorhandenen Sprecher keine Vollsprecher mehr sind, wird von einer auf Feldforschungsmaterialien basierenden Beschreibung Abstand genommen. Ausgangsbasis bildete stattdessen ein digitales Sprachkorpus, das im Rahmen des Projektes erstellt wurde. Als Grundlage hierfür dienten sämtliche, in den zentral- und südselkupischen Dialekten publizierte Texte. Es konnten sogar 11 nordselkupische Texte aufgenommen werden. In einigen Fällen liegen zu den Texten auch Audioaufnahmen vor.
Im Korpus wurden verschiedene Textsorten berücksichtigt. Neben spontansprachlicher Rede und Konversation auch Folkloretexte. Das zusammengestellte Korpus enthält alle primären Daten und die dazu gehörenden Metadaten, die gemeinsam archiviert sind. Damit wird die Quelle für die Beschreibung eindeutig identifizierbar und überprüfbar sein. Es liegen zwei Arten der Metadaten vor: Einerseits wurden die Personendaten der Muttersprachler archiviert (einige Quellen enthalten nur minimale Angaben, wie Name, Wohnort und Geburtsdatum). Im Falle der Veröffentlichungen von Kuz'mina sind die Metadaten in der Veröffentlichung zwar minimal gehalten, sie sind aber nachprüfbar und mit Hilfe der Feldforschungsnotizen erweiterbar. Andererseits wurden Angaben über den Text selbst gemacht. Hier wurden für jeden einzelnen Text konsequent folgende Daten angegeben:
- Sprecher
- Dialektale Zugehörigkeit des Sprechers
- Forscher, der den Text aufgenommen/aufgezeichnet hat
- Datum und Ort der Aufzeichnung
- PDF der Publikation, sofern ein Text bereits publiziert wurde
- Nach der wissenschaftlichen Aufbereitung mit Hilfe von „FLEX“ und „EXMARaLDA“ sollen die Texte im Korpus anderen Forschern (neben Linguisten auch Anthropologen, Ethnologen und anderen) zur Verfügung gestellt werden.
Entsprechend den Empfehlungen der modernen Dokumentationslinguistik (vgl. Gippert, Mosel und Himmelmann 2006; Himmelmann 1998; Woodbury 2003 etc.) wird in der entstehenden Beschreibung der syntaktischen Strukturen konsequent auf Belegstellen im verwendeten Textkorpus hingewiesen.
Mit dem Aufbau eines digitalen Sprachkorpus hat das Projekt einen wichtigen Beitrag zur Dokumentation der akut vom Aussterben bedrohten süd- und zentralselkupischen Dialekte geleistet. Mit den linguistischen Analysen des Korpus möchte das Projekt die großen Lücken schließen, die gerade im Bereich der selkupischen Syntax existieren.
Ergebnisse
Das im Projekt aufgebaute digitale Sprachkorpus ist am HZSK (Hamburger Zentrum für Sprachkorpora) archiviert und öffentlich, die Lizensierung erfolgt nach HZSK-PUB (https://corpora.uni-hamburg.de/hzsk/de/korpusanfragen-lizenzen). Es enthält gegenwärtig 144 selkupische Texte mit 9.257 Einheiten und 53.806 Tokens. Die Texte stammen aus nord-, zentral- und südselkupischen Dialekten sowie einer gemischten Dialektgruppe, die Merkmale sowohl der zentral- als auch der südselkupischen Dialekte aufweist (vgl. auch Glushkov/Bajdak 2016). Im Korpus finden sich folkloristische (flk) und narrative (nar) Texte sowie heroische Lieder (song) selkupischen Ursprungs und auch einige Übersetzungen aus dem Russischen oder aus einem selkupischen Dialekt in einen anderen Dialekt (trans). Die ältesten Aufzeichnungen im Korpus stammen aus dem Jahr 1845, die jüngsten aus 2014. Die überwiegende Anzahl der Texte stammt aus den 1960er- (52 Texte), 1970er- (31 Texte) und aus den 1980er-Jahren (29 Texte). Damit eignet sich das Korpus nicht nur für synchrone, sondern bedingt auch für diachrone Untersuchungen.
Gesamt | Nord | Zentral | Zentral-Süd | Süd | |
Sprecher | 49 | 11 | 15 | 1 | 23 |
Texte | 144 | 26 | 48 | 4 | 66 |
Einheiten | 9.257 | 1.410 | 3.196 | 630 | 4.021 |
Tokens | 53.806 | 7.814 | 22.014 | 1.453 | 22.525 |
Tabelle 2: Daten des Selkup Language Corpus
Die linguistischen Analysen wurden mit dem Such- und Analysewerkzeug EXAKT (aus dem EXMARaLDA-System) durchgeführt. Die bisherigen am Korpus durchgeführten syntaktischen Analysen bestätigen die beobachteten (teilweise erheblichen) Unterschiede zwischen den großen Dialektgruppen Nordselkupisch und Nicht-Nordselkupisch. Darüberhinaus unterscheiden sich in einigen Bereichen auch die zentralen Dialekte signifikant von den Süddialekten. Zu den untersuchten Phänomenen zählen unter anderem, Definitheit (Budzisch 2017a, 2017b), adnominale und prädikative Possessivität (Budzisch 2015), ditransitive Konstruktionen (Wagner-Nagy 2017a), Existenzial-, Lokativ- und Possessivsätze (Budzisch 2017b), der Gebrauch von Translativ-Essiv-Konstruktionen (Wagner-Nagy 2017b), relationale Nomen (Harder 2017) sowie eine erste Analyse von Konverbkonstruktionen.
Prädikative Possessivität
Wird in allen selkupischen Dialekten mit intransitiven Konstruktionen ausgedrückt. Bisherige Beschreibungen nennen für das Selkupische im Wesentlichen zwei Möglichkeiten, in einem prädikativen Possessivsatz den Possessor zu markieren: Der Besitzer steht im Nominativ oder in einer lokativischen Konstruktion (vgl. Bekker 1995, Wagner-Nagy 2011). Im vorliegenden Korpus zeigt sich, dass im Zentral- und Südselkupischen nahezu ausschließlich die lokativische Variante verwendet wird (vgl. Budzisch 2015, 2017b). Dagegen erscheint im Nordselkupischen der Possessor auch im Nominativ, wobei die Variante möglich ist, dass der Possessor nur durch das Possessivsuffix gekennzeichnet ist.
Ist ein overter Besitzer mit einem Lokativ markiert, unterscheiden sich Nord- und Nicht-Nordselkupische Dialekte markant voneinander. Im Nordselkupischen wird der Besitzer mit dem Genitiv markiert, gefolgt von der Postposition mɨqɨn, wie in (1a); dagegen verwenden Zentral- und Südselkupisch die Lokativmarkierung für belebte Entitäten (-nan ‘loc.anʼ) wie in (1b). Durch die Analyse konnte auch gezeigt werden, dass die sogenannte “mit”-Possessivität (der Besitz steht hier im Komitativ/ Instrumental) keine (gängige) Möglichkeit des Selkupischen ist, um prädikative Possessivität auszudrücken.
(1a) Ima-n mɨqɨn ira-tɨ čʼäːŋkɨ-mpa.
woman-gen pp.loc husband-3sg neg.ex-pst.nar.3sg
[Nord: Taz] ‘Die Frau hatte keinen Ehemann.’
(MIV_1977_Icha_flk_3)
(1b) Ma-nan ando-m ɛ-ja.
I-loc.an boat-1sg be-aor.[3sg]
[Zentral: Vasjugan] ‘Ich habe ein Boot.’
(ChDN_1983_HerosDaughter_flk_35)
Existenzial- und Lokativsätze
Ebenfalls untersucht wurde die Struktur der Existenzial- und Lokativsätzen. Analysen für das Nordselkupische (Wagner-Nagy 2016: 225) und im SLC (Budzisch 2017b) zeigen, dass in Existenzialsätzen die Wortfolge Lokation (loc) – Thema (th) auftritt, in Lokativkonstruktionen dagegen zumeist th – loc. In allen drei Dialektgruppen wird das Seinsverb auch in Existenzialsätzen verwendet, da, anders als in den nordsamojedischen Sprachen, kein spezielles Existenzialverb existiert. Beispiel (2a) zeigt einen prototypischen Existenzialsatz. Lokativsätze unterscheiden sich im Selkupischen durch ihre Wortstellung von Existenzialsätzen. In allen Dialekten erscheint das Thema in unmarkierten Sätzen vor der Lokation, wie in (2b). Die Kopula muss in diesen Fällen nicht overt ausgedrückt sein. Existenzialsätze können in allen selkupischen Dialekten mit Hilfe des negativen Existenzialverbs čaŋgigu verneint werden, wie in (3):
(2a) Natʼe-ɣɨt tudo-t ukkɨr haj-he e-ja-dɨt.
there-loc.adv crucian-pl one eye-instr be-aor-3pl
[Zentral: Vasjugan] ‘Es gibt einäugige Karauschen.’
(ChDN_1983_Nikita_flk_5)
(2b) Teb-ɨ-n pidə-t tʼuː-n puːčo-ɣən.
he-ep-gen nest-3sg earth-gen inside-loc
[Süd: Middle Ketʼ] ‘Sein Nest ist in der Erde.’
(KMS_1966_MouseGray_flk_5)
(3) Sümɨ-tɨ meːl čäːŋka
noise-3sg always neg.ex.[3sg]
[Nord: Taz] ‘Es gab keine Geräusche.’
(KaIA_1973_Natenka_flk_19)
Im Zentral- und Südselkupischen kann zusätzlich auch die aus dem Russischen entlehnte Partikel nʼetu zur Negation verwendet werden, im Korpus treten für diese Dialektgruppen beide Varianten annähernd gleich häufig auf, wie in (4a). Bekker (1995) deutet die Lexikalisierung der Partikel als negatives Existenzialverb im Selkupischen an, was im Korpus belegt werden konnte, wie in (4b). Dieses Phänomen erscheint vor allem in den Dialekten entlang des Flusses Ob.
(4a) Aldɨbodɨ nʼetu.
ground neg.ex.[3sg]
[Zentral: Narym] ‘Es gab keinen Boden.’
(SAA_1984_MyGrandmother_nar_9)
(4b) Okkɨr haj-dɨ nʼetu-wa, aː ko-nǯɨ-r-nɨ-d.
one eye-3sg neg.ex-aor.[3sg] neg sight-ipfv-frq-aor-3sg.o
[Zentral: Narym] ‘Ein Auge fehlt, sie sieht nicht.ʼ
(SAI_1984_StoryAboutLifeLong_nar_42)
Eine nähere Untersuchung von Modifikatoren des Themas von Existenzial- und Lokativsätzen zeigte, dass die Worstellung in Lokativsätzen variabler ist, wenn das Thema explizit als definit markiert ist, wie durch ein Demonstrativpronomen oder einen Marker für Possessivität - in diesen Fällen kann in einem Lokativsatz die Lokation auch vor dem Thema stehen. Hierbei zeigt sich, dass der so genannte Definitheitseffekt auch im Selkupischen eine Rolle spielt. Definitheit wird im Selkupischen somit auch durch die Wortstellung in Lokativ- und Existenzialsätzen markiert (vgl. Budzisch 2017b). Daneben kann teilweise auch das Possessivsuffix der 3. Person Singular zur Markierung von Definitheit dienen, in den häufigsten Fällen wird es hierbei als Marker von anaphorischen Verbindungen verwendet, aber auch zur Markierung von einzigartigen Objekten (wie der Sonne) oder Zeitabschnitten. Im Gegensatz zu den nordsamojedischen Sprachen ist die Verwendung der 1. und 2. Person nicht belegt (vgl. Budzisch 2017a). Die Hauptfunktion von Possessivsuffixen bleibt jedoch die Markierung des Possessors, wie in der folgenden adnominalen Possessivkonstruktion in (5). Bei einem nominalen Besitzer findet sich nicht nur die genitivische Markierung des Possessors in adnominalen Possessivkonstruktionen als häufigste Variante (vgl. Budzisch 2015), darüber hinaus kann auch der Adjektivisierer -l verwendet werden, wie in (6). Derartige Konstruktionen sind für das Nordselkupische beschrieben, für das Zentral- und Südselkupische hingegen bisher nicht.
(5) Elʼmad-e-lʼi-ka ču-r-e-l-e-mba. amba-d enne
child-ep-dim-dim cry-frq-ep-inch-ep-pst.rep[3sg] mother-3sg up
wašedʼi-mba.
rise-pst.rep[3sg]
[Zentral: Vasjugan] ‘Das Baby begann zu weinen. Seine Mutter stand auf.’
(ChDN_1983_MistressOfFire_flk_16-17)
(6) Lʼoːs-ira pičɨ-m-tɨ miša-l-nɨ-tɨ, pačɨ-nnɨ-tɨ sajɨ-l
devil-old.man axe-acc-3sg pick-inch-aor-3sg.o chop-aor-3sg.o eye-adjz
olɨ-lʼ tümɨ-m-tɨ.
head-adjz larch-acc-obl.3sg
[Nord: Middle Taz] ‘ Der teuflische Alte nahm eine Axt und hackte
auf die Lärche mit Augen und Kopf ein.’
(AVA_1973_Ichakicha2_flk_116)
Ditransitive Konstuktionen
Weiterhin konnte mit dem Korpus belegt werden, dass der Rezipient in ditransitiven Konstruktionen im Selkupischen unterschiedlich kodiert werden kann (vgl. Wagner-Nagy 2017a). Im Nordselkupischen findet sich sowohl der Typus: indirektiv ditransitiv (7a) als auch der Typus: sekundativ ditransitiv (7b). Im ersten Fall wird der Rezipient mit dem Lativ markiert, das Thema mit dem Akkusativ, im zweiten hingegen wird der Rezipient mit dem Akkusativ markiert, das Thema mit dem Instrumental. Der zweite Typus wird verwendet, wenn der Rezipient eine Topikposition einnimmt. Das Nordselkupische verhält sich hier ähnlich wie die ob-ugrischen Sprachen (vgl. Sipőcz 2016). In den zentral- und südselkupischen Texten fehlt der zweite Typus (sekundativ ditransitiv). Topikalisierung spielt dort demnach keine Rolle. Der Rezipient ist hier ausschließlich mit dem Dativ/Allativ markiert, wie in (7c):
(7a) Lʼoːs-ira mi-mɨ-tɨ pičɨ-m-tɨ nʼoma-nɨŋ.
devil-old.man give-drv-3sg.o axe-acc-3sg hare-lat
[Nord: Middle Taz] ’Der teuflische Alte gab dem Hasen die Axt.’
(AVA_1973_Ichakicha2_flk_118)
(7b) Ima-sä šɩm mi-ŋ-äšɨk!
woman-instr 1sg.acc give-aor-imp.2sg.s
[Nord: Middle Taz] ’Gib mir eine Frau!’
(BEP_1977_Icha4_flk_32)
(7c) Man teːgga tamdʼel me-ǯa-u quːdǝɣo-m.
I you.dat today give-fut-1sg.o pull.strap-acc
[Süd: Chaya] ’Ich gebe dir heute einen Strick.’
(PVD_1961_FarmAssault_flk_82)
Translativ-Essiv-Konstruktionen
Untersucht wurde auch der Gebrauch des Translativ-Essivs: Im Selkupischen existiert kein expliziertes Essivsuffix, stattdessen kann das Translativsuffix -tqo auch mit essivischen Funktionen erscheinen (vgl. Wagner-Nagy 2017b). Der Essiv-Translativmarker erscheint als nominaler Teil eines nicht-verbalen Prädikats, in depiktiver Funktion bei erweiterten Prädikaten (secondary predicate) sowie als Komplement der Verben nemtɨqo (‘nennen, rufenʼ), meqo (‘machenʼ), toqɨltɨqo (‘ansehen alsʼ), učittiɨqo (‘lernen um zu werdenʼ) und kandʼeeča (‘werdenʼ). Auch Adverbiale können mit Hilfe des Essivs gebildet werden.
Relationale Nomen
Im Rahmen der Korpusanalyse konnte ebenfalls herausgearbeitet werden, dass sich die Mehrzahl der lokalen Adpositionalphrasen im Zentral- und Südselkupischen im Zuge eines Grammatikalisierungsprozesses aus relationalen Nomen entwickelt hat (Harder 2017). Für die beschriebenen Stufen des Grammatikalisierungsprozesses [Relationales Nomen -> Kopf einer Genitiv-NP/Adverb -> Adposition -> (Kasus)Suffix] finden sich im Korpus Beispiele für sämtliche Stufen mit Ausnahme der letzten (Das Grammatikalisierungsmodell orientiert sich an Heine (1991), die beiden Stufen “Genitiv-NP” und “Adverb” erscheinen parallel.). Die relationalen Nomen als Ausgangspunkt stammen hierbei aus aus den Bereichen der Körperteil- (Kopf, Stirn, Auge, Mund, Inneres/Magen, Seite, Rücken) und Raumbezeichnungen (Rand, Oberseite, Ende, Boden, Röhre, Außenseite). Nicht alle relationalen Nomen haben hierbei den Grammatikalisierungsprozess in allen Stufen durchlaufen.
Relationales Nomen: udɨmdə moɣənnə saːrugu ‘die Hand auf dem Rücken bindenʼ
Genitiv-NP: ondə moqqoɣondə peŋgwət ‘Er legt es auf seinen Rücken.ʼ
Adverb: moːqɨnä qwanna ‘Er geht zurück.ʼ
Adposition: šoɣorn moɣoqən ‘hinter dem Ofenʼ
Mit den Erkenntnissen konnte eine ganze Reihe von wenig erforschten Phänomenen, insbesondere zu den zentral- und südselkupischen Dialekten, erstmals beschrieben werden. Neben diesen Phänomen wurden auch erste Auswertungen zu Konverben und Konverbkonstruktionen gemacht, die zeigen, dass sowohl zwischen Nord- und Nicht-Norddialekten als auch zwischen zentral- und südselkupischen Dialekten ein signifikanter Unterschied in der Häufigkeit der Verwendung konverbaler Konstruktionen besteht. Es kann vermutet werden, dass hierfür unterschiedliche Sprachkontakteinflüsse verantwortlich sind, wie beispielsweise tschulymtürkische Einflüsse auf die südselkupischen Dialekte.