Interdisziplinäre Einblicke in Alltagswelten sozialer Ungleichheit, politischer Handlungsmacht und Krisennarration
Labor zur Forschung in Präsenz-, Digital- und Hybridformaten (SoSe 2021-WiSe 2021/22)
Ausgehend von bisherigen Erfahrungen mit der Organisation und Begleitung studentischer Forschungsprojekte im Rahmen von Exkursionen nach Lateinamerika, einem Kolloquium zum Thema Krise aus lateinamerikanischer Perspektive sowie einem Seminar zum digitalen Forschen im Corona-Kontext entstand in Kooperation mit der Claussen-Simon-Stiftung das Forschungslabor "Einblicke in Alltagswelten sozialer Ungleichheit: Digitales Forschen lernen im Kontext der Corona-Pandemie", das in bestehende universitäre Auslandskooperationen sowie akademische und Forschungskontakte im Inland eingebettet ist.
Zentrales Element ist ein Forschungsseminar in Art einer Forschungswerkstatt, in der unter Anleitung und Begleitung von im Thema spezialisierten Lehrenden sowohl die inhaltlichen Dimensionen des übergreifenden Forschungsthemas ausgearbeitet wurden als auch grundlegende Kenntnisse des digitalen Forschens sowie des Forschens über digitale Phänomene und in virtuellen Räumen. Auf dieser Basis erstellten die Studierenden Forschungsdesigns. Begleitet wird das Forschungsseminar durch ein Kolloquium, in dem ein Teil der Sitzungen durch Vorträge von Expert:innen zum Thema aus Wissenschaft und Praxis gestaltet werden (weitere Infos zur Vortragsreihe: hier) sowie ein anderer Teil, der der Methodologie des digitalen Forschens gewidmet ist. Zur Vorbereitung auf die Datenerhebung konnten die Studierenden zudem an einem interdisziplinären Methodenseminar teilnehmen. Grundsätzlich gab es sowohl rein digitale, als auch hybride Komponenten für die studentischen Forschungsprojekte.
Nicht erst seit der aktuellen Corona-Krise wird es immer bedeutender, digitale Manifestationen der sozialen Realität sowie ihre virtuelle Dimension in der empirischen Forschung zu berücksichtigen. Allerdings hat die gegenwärtige Situation in der sogenannten Corona-Krise diese Erkenntnis stark befördert. Dies wurde zum Anlass genommen, mit Studierenden im Sinne eines forschenden Lernens Erfahrungen im digitalen Forschen und dem Forschen über das Digitale zu sammeln (inspiriert durch das Konzept der Digitalen Ethnographie). Dabei wurde jedoch nicht von vornherein angenommen, dass Forschungsformate, die eine möglichst große Nähe zu den Akteuren im Feld herstellen sollen, um deren lebensweltliche Perspektiven und Handlungslogiken nachvollziehen zu können, im Virtuellen nicht umzusetzen wären. Es wurden daher empirisch fundierte Einblicke in entweder geographisch ferne Lebenswelten (in Lateinamerika) oder solche, die für die Forschenden sozialräumlich fern sind (z.B. bei ecuadorianischen Migrantinnen in Hamburg und Umgebung), durch digitales Forschen und hybride Formen erschlossen. Es wurde untersucht, ob und wie eine ausreichende Nähe zum Feld trotz digitaler Vermittlung desselben erreicht werden kann, um sich Innenperspektiven zu erschließen. Die teilnehmenden Studierenden gestalteten dabei unter Anleitung von Lehrenden einen Forschungsprozess von Anfang bis Ende. Sie erhielten die Möglichkeit, eigene Fragestellungen zu entwerfen, die in ein Gesamtkonzept eingebunden sind, und diese in einem angemessenen Forschungsdesign mit entsprechender Methodenauswahl zu konzeptualisieren. Diese Überlegungen wurden dann in die Praxis umgesetzt, indem die Teilnehmer:innen empirisches Material für die eigenen Forschungsthemen erheben, sich dabei mit anderen Studierenden ergänzen und ihre digitalen Forschungskompetenzen vertiefen.
Das Projekt steht unter einem inhaltlichen Themenschirm, der mit der aktuellen Pandemie und ihren Folgen verknüpft ist. Untersucht wurde, welche Verbindungen die Pandemie mit sozialer Ungleichheit hat und welche Rolle dabei Digitalität spielt. Insbesondere fand die Frage Berücksichtigung, wie eine gesellschaftliche Abwertung bzw. mangelnde Anerkennung von Wissen, Kompetenzen und Kenntnissen desprivilegierter Gruppen (im Sinne von „Systemen des Nichtwissens“ nach Gudrun Lachenmann 1994) diese Situation beeinflusst, so wie dies im Frühsommer 2020 bspw. bei Pflegekräften und Erntehelfer:innen sichtbar wurde. Diese problematischen gesellschaftlichen Konstruktionen werden kritisch hinterfragt und insbesondere auch in Hinblick auf ihre digitalen Implikationen eingeordnet und entkräftet. Beispiele dafür können sein: die Position von Migrant:innen in prekären Aufenthalts- und Arbeitsverhältnissen in Deutschland, der Einfluss der aktuellen Krise auf ihre Situation und ihre Aneignung des Digitalen angesichts der Pandemie, oder auch die Situation Angehöriger sozial minorisierter Gruppen im Rahmen der Corona-Pandemie in Lateinamerika und deren Strategien, die aktuell nur über digitales Forschen erfasst werden können.
Es geht bspw. um Alltagstrategien indigener Dorfgemeinschaften mit der Pandemiesituation umzugehen und sich vor dieser zu schützen, oder um politischen Aktivismus sei es in aktuellen Wahlkämpfen wie in Bolivien und Ecuador, den Aktivismus afro-lateinamerikanischer und indigener Gruppen oder breitere häufig durch feministische Bewegungen getragene Proteste, wie sie sich derzeit in Chile und Argentinien Raum schaffen. Diese Prozesse sind gegenwärtig eng mit der Pandemie verknüpft, zum einen da diese Ungleichheiten sichtbarer geworden sind und zum anderen, da sie zu einem stärkeren Einsatz digitaler Mittel geführt hat.
Die Erfahrung aus Arbeitskontexten vor der Pandemie hat gezeigt, dass ein so formulierter Themenschirm Fragestellungen und methodische Herangehensweisen für einzelne Forschungsprojekte erlaubt, die sich aus allen sieben Disziplinen der Lateinamerika-Studien speisen: Ethnologie, Geographie, Geschichte, Linguistik, Literatur- und Medienwissenschaft, Politikwissenschaft und Soziologie. Die Datenerhebung erfolgt dann bspw. durch die Analyse von Internetforen, die Nutzung von sozialen Netzwerken (wie die auch in Lateinamerika am häufigsten gebrauchten von Facebook oder Instagram), von Podcasts, von digital vermittelten Interviews und durch die Beschreibungen virtueller Kommunikation zum Thema des (Krisen-) Alltags von Informant:innen. Es ist uns wichtig davon auszugehen, dass Angehörige dieser desprivilegierten Gruppen aus ihren eigenen Wissenssystemen heraus als eigenständige, mit Handlungsmacht ausgestattete soziale Akteure strategisch mit der Situation umgehen.
Für die Erarbeitung der methodologischen Grundlagen zum digitalen Forschen und dem Forschen über das Digitale wurde aktuelle Methodenliteratur (Sarah Pink et al. 2016; Sabine Maasen, Jan-Hendrik Passoth 2020) erarbeitet und relevante Forschungen (Heike Greschke 2009) gelesen und diese als Erweiterung von Vorgehensweisen der Präsenzforschung diskutiert (Gabriele Rosenthal 2015; Georg Breidenstein et al. 2020). Hiervon ausgehend erstellten die Studierenden ihr Forschungsdesign und wählten die konkrete Vorgehensweise sowie Erhebungstechniken aus. Abschließend findet angelehnt an die Grounded Theory (Barney Glaser, Anselm Strauss 1967) die Analyse des Materials statt, die in einer sog. Theoretisierung mittlerer Reichweite mündet.
- Dauer: 2021-2022
- Projektleitung: Prof. Dr. Inke Gunia, Dr. Gilberto Rescher, María Guadalupe Rivera Garay (Beteiligte Wissenschaftlerin)
- Drittmittelgeber: Claussen-Simon-Stiftung