Interdisziplinäre Einblicke in Alltagswelten sozialer Ungleichheit, politischer Handlungsmacht und Krisennarration: Labor zur Forschung in Präsenz-, Digital- und Hybridformaten23.-24.05.21 | 10:00-18:00 Uhr
13. April 2021, von Gilberto Rescher
Nicht erst seit der aktuellen Corona-Krise wird es immer bedeutender, digitale Manifestationen der sozialen Realität sowie ihre virtuelle Dimension in der empirischen Forschung zu berücksichtigen. Allerdings hat die gegenwärtige Situation in der sogenannten Corona-Krise diese Erkenntnis stark befördert. Dies soll zum Anlass genommen werden, mit Studierenden im Sinne eines forschenden Lernens Erfahrungen im digitalen Forschen und dem Forschen über das Digitale zu sammeln (inspiriert durch das Konzept der Digitalen Ethnographie). Dabei soll jedoch nicht von vornherein angenommen werden, dass Forschungsformate, die eine möglichst große Nähe zu den Akteuren im Feld herstellen sollen, um deren lebensweltliche Perspektiven und Handlungslogiken nachvollziehen zu können, im Virtuellen nicht umzusetzen wären. Es sollen daher empirisch fundierte Einblicke in entweder geographisch ferne Lebenswelten (in Lateinamerika) oder solche die für die Forschenden sozialräumlich fern sind (z.B. bei ecuadorianischen Migrantinnen in Hamburg und Umgebung) durch digitales Forschen und hybride Formen erschlossen werden. Es soll untersucht werden, ob und wie eine ausreichende Nähe zum Feld trotz digitaler Vermittlung desselben erreicht werden kann, um sich Innenperspektiven zu erschließen. Die teilnehmenden Studierenden werden dabei unter Anleitung von Lehrenden einen Forschungsprozess von Anfang bis Ende gestalten. Sie erhalten die Möglichkeit eigene Fragestellungen zu entwerfen, die in ein Gesamtkonzept eingebunden sind, und diese in einem angemessenen Forschungsdesign mit entsprechender Methodenauswahl zu konzeptualisieren. Diese Überlegungen sollen dann in die Praxis umgesetzt werden, indem die Teilnehmer:innen empirisches Material für die eigenen Forschungsthemen erheben, sich dabei mit anderen Studierenden ergänzen und ihre digitalen Forschungskompetenzen vertiefen.
Eingebettet wird das Lehrprojekt in bestehende universitäre Auslandskooperationen sowie akademische und Forschungskontakte im Inland, und es soll allen interessierten Studierenden offenstehen, wobei inhaltliche oder methodologische Vorkenntnisse mitzubringen sind. Um den Zugang niedrigschwellig zu halten, erwarten wir hier grundlegende Kenntnisse über Gesellschaft und Kultur in Lateinamerika und über offene, explorative Methodologie. Das Projekt steht unter einem inhaltlichen Themenschirm, und dieser wird ebenfalls mit der aktuellen Pandemie und ihren Folgen verknüpft sein. Es wird darum gehen zu untersuchen, welche Verbindungen die Pandemie mit sozialer Ungleichheit hat und welche Rolle dabei Digitalität spielt. Insbesondere findet die Frage Berücksichtigung, wie eine gesellschaftliche Abwertung bzw. mangelnde Anerkennung von Wissen, Kompetenzen und Kenntnissen desprivilegierter Gruppen (im Sinne von „Systemen des Nichtwissens“, nach Gudrun Lachenmann 1994) diese Situation beeinflusst, so wie dies im Frühsommer 2020 bspw. bei Pflegekräften und Erntehelfer:innen sichtbar wurde. Diese problematischen gesellschaftlichen Konstruktionen sollen kritisch hinterfragt und insbesondere auch in Hinblick auf ihre digitalen Implikationen eingeordnet und entkräftet werden. Beispiele dafür können sein: die Position von Migrant:innen in prekären Aufenthalts- und Arbeitsverhältnissen in Deutschland, der Einfluss der aktuellen Krise auf ihre Situation und ihre Aneignung des Digitalen angesichts der Pandemie, oder auch die Situation Angehöriger sozial minorisierter Gruppen im Rahmen der Corona-Pandemie in Lateinamerika und deren Strategien, die aktuell nur über digitales Forschen erfasst werden können. Dabei geht es bspw. um Alltagstrategien indigener Dorfgemeinschaften mit der Pandemiesituation umzugehen und sich vor dieser zu schützen, oder um politischen Aktivismus sei es in aktuellen Wahlkämpfen wie in Bolivien und Ecuador, den Aktivismus afro-lateinamerikanischer und indigener Gruppen oder breitere häufig durch feministische Bewegungen getragene Proteste, wie sie sich derzeit in Chile und Argentinien Raum schaffen. Diese Prozesse sind gegenwärtig eng mit der Pandemie verknüpft, zum einen da diese Ungleichheiten sichtbarer geworden sind und zum anderen, da sie zu einem stärkeren Einsatz digitaler Mittel geführt hat. Die Erfahrung aus Arbeitskontexten vor der Pandemie hat gezeigt, dass ein so formulierter Themenschirm Fragestellungen und methodische Herangehensweisen für einzelne Forschungsprojekte erlaubt, die sich aus allen sieben Disziplinen der Lateinamerika-Studien speisen: Ethnologie, Geographie, Geschichte, Linguistik, Literatur- und Medienwissenschaft, Politikwissenschaft und Soziologie. Die Datenerhebung erfolgt dann bspw. durch die Analyse von Internetforen, die Nutzung von sozialen Netzwerken (wie die auch in Lateinamerika am häufigsten gebrauchten von Facebook oder Instagram), von Podcasts, von digital vermittelten Interviews und durch die Beschreibungen virtueller Kommunikation zum Thema des (Krisen-)Alltags von Informant:innen. Es ist uns wichtig davon auszugehen, dass Angehörige dieser desprivilegierten Gruppen aus ihren eigenen Wissenssystemen heraus als eigenständige, mit Handlungsmacht ausgestattete soziale Akteure strategisch mit der Situation umgehen.