Keingeirsya - rätselhafte allegorische Lieder in der Nganasanischen Folklore
25. Juni 2024, von INEL-Webredaktion

Foto: C D-X via unsplash.com
Nachdem wir Ihnen vergangene Woche Nganasanische Erzählungen über Shaman*innen vorgestellt haben, geht es diese Woche um Keingeirsya.
Keingeirsya sind poetische Miniaturen allegorischen Inhalts. Keingeirsya kann als "Gesangswettbewerb", "Wettstreit im Singen" oder "miteinander singen", "einander vorsingen" übersetzt werden. Laut Boris Dolgikh und Lev Feinberg „... erklären und scherzen junge Männer und Frauen in der Keingeirsya-Sprache miteinander und wetteifern in witzigen Scherzliedern. Manchmal erzählen alte Menschen in dieser Form, wie sie sich früher gegenseitig besucht haben, wie sie fischen gegangen sind usw. Sie nennen sich gegenseitig bei verschiedene allegorische Namen und Spitznamen. Es kommt sogar vor, dass die Alten in der Sprache der Kaingalar über die Liebe singen, wie sie sich früher um die Mädchen gekümmert haben und so weiter. Die jüngere Generation versteht die Worte, aber nicht immer ihre versteckte Bedeutung“ (Долгих, Файнберг 1960: 55)[CP5] [MB6] .
Laut Eugen Helimski (Хелимский 1995: 274) zeigt sich die Nähe des Genres zu Rätseln besonders deutlich in allegorischen Miniatturas, wie man hier an einigen Beispielen sehen kann:
Quelle | Original Text | Übersetzung | Interpretation |
---|---|---|---|
Хелимский 1995: 274 | ![]() |
„(Bei) der berühmten Skispur entlang des Kerns schien der Schaum zu schwimmen“ |
Der Fluss hat sich geöffnet; im Winter ist es am bequemsten, mit Skiern auf der Schnee- und Eisdecke der Flüsse zu fahren. |
Хелимский 1995: 274 | ![]() |
„Von einem Wolfsstern gebissene Rentiere, die Rentiere wurden lahm.“ |
Schwangere unverheiratete Mädchen; "Wolfsstern" = ihre nächtlichen Besucher, werden lahm = die Mädchen verändern ihren Gang, da sie schwanger sind. |
Хелимский 1995: 278 | ![]() |
"Was es ist, das herumfummelt, ein Käfer, der fummelt, der die Lydas (Flachland in Tundra) überquert?“ |
Der Autor spricht abschätzig über seinen Rivalen. Sein Rivale, der die allegorisch ausgedrückten tiefen Gedanken ("lydes") kaum zu begreifen vermag. |
Хелимский 1995: 280 | ![]() |
"Ein Hammer aus Schmiedeeisen obwohl der knistert, Ich schärfe immer noch mein Messer mit Knochengriff.“ |
Der Hammer verweist auf den Auftritt des Rivalen, das Messer auf die viel subtileren und anmutigeren Allegorien des Autors selbst. |
Unser Nganasanisch Korpus enthält die Tonaufzeichnungen zweier Keingeirsya, welche wir Ihnen im Folgenden mitsamt der Interpretation vorstellen:
Keingeirsya 1, Monolog eines jungen Mannes
Original Text | Übersetzung | Interpretation |
---|---|---|
Takəə ŋəðüŋürüɁ. AnikaɁa tari Sʼitirəkɨmənɨ DʼabubtuɁkiɁiðə. |
Guckt mal, der große Fluss teilte sich in zwei Arme. | Das Leben eines jungen Mannes wurde geteilt, seine Liebe wurde von seiner Freundin nicht erwidert. |
Ŋami͡aj dʼabu tari Toltə dʼijku tari. |
Der eine Arm des Flusses wendet sich der untergehenden Sonne zu. | Schlechte Seite, weil der Mann sich schlecht fühlt, weil er nicht geliebt wird. |
Ŋami͡aj dʼabu tari Dʼalɨ dʼijku tari. |
Der andere Zweig des Flusses ist eine Wendung in Richtung der aufgehenden Sonne. | Es ist ein guter Weg, das Mädchen fühlt sich gut, sie muss jemanden lieben. |
Toltə dʼijku tari MorurəgaɁ nʼini Sɨra sulku nʼasuɁ. KintəranʼdʼəɁ ləmbəɁ SʼimbitilʼiɁiðə. |
Ein Zweig in Richtung der untergehenden Sonne, an den Ufern stehen Rentier Stiere mit weißem Widerrist. Die aufgeworfenen Flanken [des Stiers] sind verblasst und kaum sichtbar. | Der Junge vergleicht sich mit diesem Rentier, er ist also im Geiste gefallen. |
Dʼalɨ dʼijku tari MərurəgaɁ nʼini KəhɨɁ saruədʼəəɁ NʼomuɁ saruədʼəəɁ SaruəɁ dʼentiririɁ. |
Der Arm, der der Sonne zugewandt ist, an seinen Ufern, als gäbe es Raufußhühnerpfade, Hasenpfade; die Pfade ziehen sich hin. | |
Kudʼümə kəitə Təsʼiə təsʼiəhəðə SəmaɁtuðaŋkumə Kərɨtəbininə? Mənə minʼsʼiəhənə Toltə dʼabu tari Nʼasənandukəndum. Tə-tə təsʼiəhəðə DʼijkuləndəɁkiɁəm. |
In welche Richtung soll ich nun mein Enets-Rentier lenken? Ich selbst denke daran, den Flusslauf in Richtung der untergehenden Sonne zu wählen. Nun werde ich mich umdrehen, mich umdrehen. | Der Mann wird sich umdrehen und weggehen, das heißt, das Mädchen vergessen. |
Keingeirsya 2, Dialog zweier Freundinnen
Rolle | Original Text | Übersetzung | Interpretation |
---|---|---|---|
Die erste Freundin singt: |
HeŋguɁəj heŋguɁəj Tənərə tənɨjŋu Kanərə tənɨjŋu Kəntərə tənɨjŋu? MaruɁsʼatəðəmə Mənə nandukəndum Huurnʼandɨkəndɨm. |
Liebe Freundin, liebe Freundin, wie viele Schlitten hast du? Ich würde gerne einen Freund, einen Kumpel finden. | |
Die zweite Freundin antwortet singend: |
Ŋami͡ajlʼə mununtu: SʼüamaɁaj heŋguɁəj Mənəmə tənɨjtʼü Nagürmə tənɨjtʼü Kəntəmə tənɨjtʼü. |
Liebe Freundin, ich habe drei Schlitten. | Schlitten = Brüder |
Nʼerəðɨtɨ kəntə Sɨraŋkuj tʼeriti Ŋülʼaðəj tʼeriti. |
Der erste Schlitten ist mit weißen Wolfsfellen gefüllt. | Der älteste Bruder ist schon in die Jahre gekommen. | |
Sʼiðimti͡aɁku kəntə Beləduskəj tundɨj Tundɨj tʼerititʼi. |
Der zweite Schlitten ist mit weißen Fuchspelzen gefüllt. | Der zweite Bruder ist ein erwachsener Bursche. | |
NagəmtaɁku kəntə Sʼeŋki͡aŋkuj tʼeriti Satərəj tʼeriti. |
Der dritte Schlitten ist mit Fellen von Blaufüchsen gefüllt. | Der jüngere Bruder ist noch jung. | |
Beləduskə tundɨ MaruɁsʼaðətətə Tohəðunantundum. |
Ich will dich zum Freund des Weißhalsfuchses machen. | ||
Die erste Freundin singt: |
Ŋami͡ajlʼə mununtu: HeŋguɁəj, heŋguɁəj Takəə ŋəðüŋürə? DʼigüɁtaɁku turku Heŋkuðəj hoŋhi͡aðɨ. HeŋkuðiɁ barusʼi NamtəraɁa mənə namtəraɁa. |
Liebe Freundin, liebe Freundin, siehst du das da drüben? Der See mit hohen Ufern hat Schluchten. Der Teufel der Schluchten hat mich entführt. | Sie ist schon mit einem Mann verheiratet, den sie nicht kennt. |
NʼenɨŋkiɁ, nʼenɨŋkiɁ ŋojbuənə nʼiməənɨ kürütündətundə. |
Mücken, Mücken über meinem Kopf, obwohl sie schwirren. | Obwohl ich viele andere Verehrer habe, die um mich werben wollen. |
Quellen
Долгих Б.О., Файнберг Л.А. Таймырские нганасаны // Современное хозяйство, культура и быт малых народов Севера. М. 1960. С. 9–62.
Хелимский, Е.А. 1995. Загадки-иносказания в нганасанском фольклоре - In: Малые формы фольклора: Сборник статей памяти Г. Л. Пермякова. Москва, 1995, 270-282.