Kulturelles Gedächtnis der Stadt
Ingrid Schröder: Das Hamburgische Wörterbuch – kulturelles Gedächtnis der Stadt
Kulturelles Gedächtnis
Wörterbücher werden als Übersetzungshilfe genutzt, als Instrument zur Verständnissicherung, als Nachschlagewerk für den korrekten Gebrauch eines Wortes, als Hilfsmittel bei der Textherstellung. Alles dies bietet natürlich auch das Hamburgische Wörterbuch, das den niederdeutschen Wortschatz in Hamburg dokumentiert und zwar in seiner historischen Entwicklung seit dem 17. Jahrhundert. Die einzelnen Wörter werden mit ihren Bedeutungen und deren Nuancen erklärt, ihr Gebrauch wird durch Satzbeispiele erläutert. Informationen zur Aussprache, zur Grammatik und bisweilen auch zur Herkunft der Wörter sind selbstverständlich. Darüber hinaus werden zum Verwendungsbereich, beispielsweise in einem bestimmten Fach oder Beruf, oder zur stilistischen Zuordnung Angaben gemacht. Da es sich um ein Regionalwörterbuch handelt, das eine nicht-standardisierte und damit eine heterogene Sprache abbildet, sind räumliche Differenzen im Gebrauch der Wörter wie in der Aussprache angegeben, Unterschiede, die auch noch heute in den einzelnen Stadtteilen hörbar sind.
Das Hamburgische Wörterbuch ist aber mehr als dies: Es ist vielmehr ein Gedächtnis der Stadt, das weit über die Erfahrungen der individuellen Biographie hinausweist. Es bewahrt die städtische Kultur der Neuzeit in ihrer Entwicklung. Durch seinen Dokumentationszeitraum hat es Teil am kommunikativen Gedächtnis wie am kulturellen Gedächtnis der Stadt. Das kommunikative Gedächtnis umfasst das Wissen aus eigener Erfahrung, die Zeitzeugenschaft der eigenen Generation. Das kulturelle Gedächtnis hingegen richtet sich auf die Vergangenheit und auf die Erinnerungsfiguren, in denen diese Vergangenheit aufbewahrt wird.
Sich seiner Geschichte vergewissern, der eigenen Gewordenheit nachspüren, die besondere Kultur einer Stadt begreifen und die Grundlagen der städtischen Identität erkennen, dazu trägt ein Wörterbuch zur Stadtkultur bei, wie es mit dem Hamburgischen Wörterbuch vorgelegt worden ist.
Wörterbuch einer Stadtsprache
Im Vergleich mit anderen regionalsprachlichen Wörterbüchern wie dem Schleswig-Holsteinischen Wörterbuch (1927-1935), dem Mecklenburgischen Wörterbuch (1937-1997) oder dem Niedersächsischen Wörterbuch (ab 1953) zeichnet sich das Hamburgische Wörterbuch dadurch aus, dass die genuin städtische Heterogenität der Lebensbereiche und die vielfältigen sprachlichen Einflüsse abgebildet werden, denen das Hamburgische im Laufe der Geschichte ausgesetzt war.
Zur sprachlichen Basis, dem Niederdeutschen, wie es im Mittelalter und in der frühen Neuzeit als überregionale Schriftsprache und städtische Umgangssprache verwendet wurde, kommen Einflüsse beispielsweise durch niederländische Zuwanderer im 17. Jahrhundert, durch die französische Besatzung zu Beginn des 19. Jahrhunderts, durch mannigfache Beziehungen nach England, durch Handelskontakte, durch Seefahrt und ebenso durch Zuzug von Einwohnern aus dem weiteren Umland. So stammen Wörter wie „Bugseer“ für „Schlepper/Bugsierschiff“, „Buscherump“ für das Fischerhemd und „suutje“ für „sacht, langsam“ aus dem Niederländischen, „Schisslaweng“ für „Schwung“ und Oomidoom für „Wäschestärke“ und auch „Ohnmacht“ aus dem Französischen, die „Hobengeng“ = „Gruppe von Hafenarbeitern“ und der „Kaffeteng“, den die Hafenarbeiter zur Arbeit mitbrachten, aus dem Englischen.
Wortschatz und städtische Heterogenität
Damit aber nicht genug. Das Wörterbuch dokumentiert mit den sprachlichen Besonderheiten gleichzeitig die Vielfalt der abgebildeten Lebensbereiche. In Hamburg stehen an zentraler Stelle natürlich Hafen und Schifffahrt und der damit zusammenhängende Handel und das entsprechende Gewerbe, die Fischer, die Schiffsausstatter, die Hafenarbeiter, die Handwerker im und am Hafen. Typische Arbeitsgeräte und Arbeitsvorgänge werden beispielsweise in den Artikeln „Pumpspill“, die Schiffs- oder Ankerwinde, und „kalfaten“ behandelt:
In Wort und Bild wird der Vorgang veranschaulicht (siehe links). Neben der Bedeutungserläuterung „die Fugen zwischen den hölzernen Schiffsplanken mit Werg abdichten“ folgt eine Erläuterung des Vorgangs: „das Werg (oft auseinandergezupftes und zu dünneren Fäden zusammengedrehtes geteertes Tauwerk) wird mit Kalfaatisen in die Fugen eingetrieben und mit Pech oder Ersatzstoffen mit Hilfe des Pickquast überstrichen; [...] überflüssiges Pech o.ä. wird mit dem Pickschraap abgeschabt. Das Kalfatern gehört zu den Arbeiten des Schiffszimmermanns.“ Aus der reinen Bedeutungserläuterung wird eine lexikographische Erzählung. Ein Blick auf die Wortgeschichte stößt auf erste Belege des Verbs im 18. Jahrhundert und bereits im 16. Jahrhundert belegtes „Kalfater-Isen“. Wir erfahren weiterhin, dass das Wort aus den romanischen Sprachen eventuell über niederländische Vermittlung ins Niederdeutsche gekommen ist.
In den Vier- und Marschlanden kommen Gemüsebau und Gärtnerei als lexemspendende Bereiche hinzu. Dies dokumentiert beispielweise der Artikel „Wortel“ (siehe rechts):
Wortel bedeutet nicht nur die Wurzel einer beliebigen Pflanze, sondern zugleich – wie auch in anderen Regionen in Norddeutschland – die Möhre/Karotte. Zu diesem Artikel ist eine Abbildung aus dem Hamburger Ausruf gestellt. Der Hamburger Ausruf zeigt eine Auswahl von stadttypischen Händlern mit ihren Ausrufen, hier eine Verkäuferin von Möhren, deren Ruf „wöy Wörteln, gele Wörteln“, wie er für das 18. Jahrhundert bezeugt ist, an einer späteren Stelle im Artikel zu finden ist. Bauernregeln: Möhren müssen bis zum Himmelfahrtstag gesät werden, Aberglaube: Beim Säen muss man murmeln Arm lang, Been dick und magische Krankheitsbehandlungen werden ebenfalls mitgeteilt.
An stadt-eigentümlichen Berufen sind nicht nur die Händler zu nennen, sondern beispielsweise auch die Zuckersieder, die Zuckerhüte aus Rohzucker herstellten:
Im Artikel (siehe links) wird auf die Bedeutung der Zuckerindustrie für Hamburg im 17. und 18. Jahrhundert verwiesen, und es werden die einzelnen Arbeitsschritte beim Raffinieren des Zuckers beschrieben. Auf der Abbildung sieht man die Zuckerbäcker, welche die getrockneten Zuckerhüte aus den Tonformen entnehmen.
Auch die topographischen Besonderheiten der Stadt machen sich im Wortschatz bemerkbar, beispielsweise der Stintfang, eine Anhöhe an den St. Pauli Landungsbrücken (rechts auf einer Abbildung zu Beginn des 19. Jahrhunderts zu sehen).
Gebäude, welche die Stadt prägen, beispielsweise die Kirchen oder Stadttore, und auch bauliche Besonderheiten werden beschrieben, hier die „Lööv“, eine Bezeichnung für einen hölzernen Vorbau an Häusern, die an Fleeten lagen, oder auch Bezeichnung für die Rathauslaube (siehe links).
Gegenstände des Alltagslebens wie das Mangelbrett zum Glätten von Wäsche oder der Kachelofen mit reichen Verzierungen verweisen in ihren Abbildungen zugleich auf kunsthandwerkliche Produkte als kulturhistorische Besonderheiten (siehe rechts).
Die städtische Festkultur spiegelt sich in Artikeln wie „Köst“, die Hochzeitsfeier oder das Tanzvergnügen, oder auch „Papagooj“, die Vogelfigur als Ziel beim Vogelschießen, dessen Sieger zum „Papegojenkoninc“, zum Papageien- oder Schützenkönig, gekürt wurde.
Schließlich fehlen auch nicht die markanten stadtbekannten Persönlichkeiten, wie der Wasserträger Hummel oder die Zitronenjette, Johanne Henriette Müller, die Ende des 19. Jahrhunderts auf den Straßen und in Lokalen Zitronen verkaufte (siehe links). Unter dem Stichwort „Zitroon“ finden wir auch wieder die Ausrufe der Marktverkäufer: „schöne Zitroon un Appelsina, so sööt as miene Trina“.
Das Hamburgische Wörterbuch ist mehr als ein Nachschlagewerk, das zum niederdeutschen Wortschatz hochdeutsche Entsprechungen liefert. Es bietet einen Überblick über den lokalen Wortschatz der Stadt Hamburg in seiner historischen Dimension. In erster Linie profitieren von diesem Wörterbuch natürlich Germanisten und allgemein Sprachwissenschaftler, vor allem für die Dialektologie, die Soziolinguistik und die historische Linguistik, daneben aber auch Historiker und Volkskundler oder auch Lehrer, Journalisten und natürlich alle Menschen, die an lebensweltlichen Ausschnitten der Stadtgeschichte interessiert sind. Das Wörterbuch dokumentiert damit nicht nur eine regionale Sprache und gibt wichtige Informationen für etymologische, sprachgeographische und kontrastive Untersuchungen, sondern erschließt darüber hinaus eine Stadt und ihre Kultur, auch unter historischen Aspekten. In ihm finden wir einen Hamburger Wortschatz im wahrsten Sinne des Wortes, die sprachlich verfasste Kulturgeschichte der Stadt.
Material und Bearbeitung
Material und Bearbeitung
Wie kommt nun dieser Wissensbestand zusammen? Ein Blick auf die Materialbasis, auf die Quellen und Sammlungen, und damit auf den steten Ausbau des Wörterbucharchivs als Basis für die Artikel, soll den Entstehungsprozess des Hamburgischen Wörterbuchs vor Augen führen.
Als Agathe Lasch 1917 mit der Wörterbucharbeit begann, konnte sie auf verschiedene lexikographische Vorarbeiten zurückgreifen. Bereits im 18. Jahrhundert war ein Wörterbuch mit hamburgischem Wortschatz erschienen, das „Idioticon Hamburgense“ (Titelblatt siehe rechts) des Hamburger Gymnasiallehrers Michael Richey.
Richeys Ziel war es, durch die Sammlung regionaler Ausdrücke zur Bereicherung der deutschen Sprache beizutragen – ein Programm, das bereits 1697 Gottfried Wilhelm Leibniz in seinen „Unvorgreiffliche[n] Gedanken betreffend die Ausübung und Verbesserung der Teutschen Sprache“ entwickelt hatte. Ein weiteres Ziel Richeys bestand darin, den regionalen Wortschatz zu dokumentieren, der nach und nach zu verschwinden drohe, ein Anspruch, der auch für die Regionallexikographie des 20. Jahrhunderts gilt.
Neben Richeys Idioticon sind als Materialgrundlagen das Schleswig-Holsteinische Idiotikon von Johann Friedrich Schütze, das 1800-1806 veröffentlicht wurde, und vor allem zwei Sammlungen zu nennen, die ins Wörterbuchmaterial eingearbeitet worden sind: ein Glossar des Hamburger Schriftstellers Georg Nicolaus Bärmann von 1840 – Bärmann schrieb (1828) den Text der Hamburg-Hymne „Hammonia“ – und ein ca. 1000-seitiges Manuskript des Bibliothekars Christoph Walther, das dieser zwischen 1855 und 1914 angelegt hatte. Der ursprüngliche Plan, Walthers Manuskript zu redigieren und zu veröffentlichen, musste schnell aufgegeben werden. Stattdessen erarbeitete Agathe Lasch ein neues Wörterbuchkonzept, nach dem Walthers Material zunächst auf Zettel zu übertragen, alphabetisch zu sortieren und zu ergänzen war. Die Auswertung weiterer schriftlicher Quellen – historischer Texte wie mundartlicher Literatur – Sammelaufrufe und auch Befragungen von Niederdeutsch-Sprechern in Hamburg ließen das Archiv auf heute ungefähr eine Million Zettel anwachsen.
Für einen Artikel wird im Folgenden dieses Material ausschnitthaft vorgestellt. Dabei wird auch deutlich, welchen formalen Besonderheiten und inhaltlichen Herausforderungen sich spätere Bearbeiter ausgesetzt sahen.
Auf der Seite aus Walthers Manuskript (siehe links) steht beim Eintrag „Schoner“: „Schoner und noch öfter schuner, auch Schonert/Schonard oder Schunart/Schunerd spricht man im Niederdeutschen. Hochdeutsch schreibt und spricht man Schoner, worin wir ohne Zweifel die ursprüngliche Form des niederdeutschen Wortes haben. Schuner ist wol nur aus der englischen Aussprache scooner geschlossen, wie auch im Nordfriesischen Skuner“ usw. Der Text wird auf der nächsten Seite fortgesetzt; hier folgen dann auch Bedeutungserläuterungen.
Der Zettel, auf dem Agathe Lasch diesen Eintrag fixiert hat, ist im Archiv erhalten geblieben (siehe rechts). Weitere Belege ergänzen das Material, Exzerpte aus nautischen Sachtexten, zur Schiffszimmerei, die Ergebnisse verschiedener Umfragen oder auch Belege aus literarischen Werken.
Als Beispiele mögen zwei Zettel dienen (siehe links): Einer mit der Erklärung des Schiffstyps „Schuner“ („ein langes schmales zweimastiges Schiff mit großem Hinter (Schuner-)Segel, das sehr schnell segelt“) und ein zweiter mit einer Erläuterung des Schiffbaus in niederdeutscher Sprache („Een Schuner ward op faste Spanten bout. Se holt sick de Spantenmallen ran und seukt sick das Holt rut, als dat woll doorop passen deiht. Unn’n in’t Buukstück sünd de Spanten an’n dicksten, de Oplangers könt all wat smaller sien.“). Hier wird den Bearbeitern ein nicht unbeträchtliches schiffsbauliches Wissen abverlangt. Natürlich existieren viele weitere Belege, aus denen Bedeutung und Gebrauch des Wortes geschlossen werden können.
Der Wörterbuchartikel, wie er veröffentlicht wurde (siehe rechts), zitiert Walthers Bedeutungserläuterung („ein schmales schnellfahrendes Segelschiff mit Raasegeln am Fockmast und Gaffelsegeln am Besanmast“), gibt Belege und Zusammensetzungen an und verweist auch auf die Herkunft des Wortes aus dem Englischen. Die Abbildung illustriert zusätzlich die Bedeutungserläuterung und zeigt die beiden Segeltypen Raa vorne und Gaffel hinten. Auf diese Weise spiegelt der Artikel in der Aufbereitung des Materials auch die Wörterbuchgeschichte.
Interviews in Altenwerder kurz vor dem Ausbau des Hafens und der Umsiedlung der Bewohner und eine Serie im Hamburger Abendblatt 1978/79 haben das Wörterbuchmaterial gezielt ergänzen können.
„Kannst du mi dat vertellen?“, wurde 1978/79 regelmäßig im Abendblatt gefragt (siehe links). Der Archivleiter und Wörterbuchbearbeiter Jürgen Meier und Günter Harte, der die plattdeutsche Kolumne im Abendblatt schreibt, haben in einer gemeinsamen Aktion die Leser des Abendblattes aufgerufen, zu verschiedenen Themenkreisen Material einzusenden. Das Echo war überwältigend und hat sich in einer Anzahl von Ordnern und Karteikästen im Hamburgischen Archiv niedergeschlagen.
Nur ein kleines Beispiel: Zur Frage nach dem Brauch des Rummelpotts zu Silvester werden von einer Leserin die verwendeten Reime mitgeteilt und es wird das Rummelpott-Laufen beschrieben (siehe rechts).
Im Wörterbuchartikel (siehe links) erhalten wir dann differenzierte Informationen über Brauch und Geschichte des Rummelpotts und finden eine Reihe von Textvarianten aus den verschiedenen Hamburger Stadtteilen.
Ergebnisse: Das große und das kleine Wörterbuch
Das Ergebnis der 90-jährigen Wörterbuchgeschichte kann sich sehen lassen. In fünf stattlichen Bänden liegt der niederdeutsche hamburgische Wortschatz vor. Zudem diente und dient auch weiterhin das Archiv als Forschungsinstrument und Auskunftsstelle. Erst im Archiv erschließt sich die Breite und Differenziertheit des Materials für Forschungsfragen zur Hamburger Stadtsprache und zu ihrer Geschichte. Mit dem Hamburgischen Wörterbuch besitzt Stadt Hamburg ein Gedächtnis, das die Kulturgeschichte der Stadt dokumentiert.
In kompakter Form – quasi für den Alltagsgebrauch – liegt seit 2006 auch ein „Kleines Hamburgisches Wörterbuch“ vor, das von Jürgen Meier und Beate Hennig herausgegeben wurde.