und Kommunikation
Neue Buchpublikationen am IMKAnimationsfilm und Subjektivität in den Medien
2. Dezember 2016, von Trang Nguyen
Mit „In Bewegung setzen…“ und „Subjectivity Across Media“ sind in diesem Herbst gleich zwei Sammelbände erschienen, an denen Maike Sarah Reinerth, wissenschaftliche Mitarbeiterin am IMK, als Herausgeberin beteiligt ist. Zur aktuellen Forschung haben wir sie befragt.
Animation erschließt sich seit einigen Jahren auch neue Felder, mit denen man den Animationsfilm zunächst nicht in Verbindung bringt wie z.B. Animadoks, die Animation und Dokumentation vermischen. Was bedeutet diese Entwicklung für den Animationsfilm, mit dem man ja auf den ersten Blick eher eine fiktionale Erzählung verbindet?
Maike Sarah Reinerth (MSR): Das, was wir unter Animadoks verstehen, gibt es schon seit der Frühzeit des Films. Winsor McCay schuf 1918 mit „The Sinking of the Lusitania“ den ersten (bekannten) Animationsfilm, der ein reales historisches Ereignis darstellt, von dem keine fotografischen oder filmischen Aufnahmen existieren. Das weist bereits auf einen entscheidenden Aspekt hin: Animation kann Dinge oder Begebenheiten darstellen, die anders nicht zeigbar wären, z.B. wenn es keine Aufzeichnungen gibt oder diese zensiert werden (z.B. den Film „The Green Wave“, 2010, R: Ali Samadi Ahadi), wenn komplexe Sachverhalte grafisch aufgearbeitet oder unsichtbare Vorgänge simuliert werden (z.B. TV-Wissensformate wie Galileo), aber auch wenn das, was dokumentiert wird, die persönlichen Erinnerungen oder Gefühle von Personen und Filmschaffenden einbeziehen soll (bspw. aktuelle Kurzfilme wie „Kaputt“, 2016, R: Volker Schlecht und Alexander Lahl oder „Die Weite suchen“, 2015, R: Falk Schuster).
Animation kann all das leisten, ist also nicht auf fiktionale Inhalte beschränkt – wobei die strenge Trennung von Dokumentation und Fiktion ja generell ein Konstrukt ist, beide Bereiche sind z.B. auch in nicht-animierten Dokumentarfilmen oder fiktionalisierten Biopics häufig miteinander vermischt. Die Frage, was das „Realistische“, „Authentische“, „Dokumentarische“ eines Films ausmacht, wurde im Verlauf der Filmgeschichte immer wieder anders beantwortet und Positionen dazu berufen sich nicht allein auf den fotografischen Abbildrealismus. Der Begriff „Animadok“ ist in Deutschland vor allem durch die entsprechende Sektion auf dem DOKLeipzig-Festival bekannt geworden – wie er sich dort auf die Praxis der Filmauswahl und Programmierung auswirkt, hat Annegret Richter, die langjährige Leiterin des dortigen Animationsfilmprogramms, in ihrem Vortrag auf der Tagung „In Bewegung setzen …“ 2012 in Hamburg sehr schön skizziert (Video des Vortrags). Aus dieser Tagung ist auch der aktuelle Sammelband hervorgegangen.
Bewegung ist im Animationsfilm, wie man auch am Titel Ihres neuen Buches "In Bewegung setzen..." erkennen kann, ein zentrales Thema. Wie sieht die aktuelle theoretische Debatte dazu aus?
Es gibt dazu verschiedene Positionen. Bewegung bzw. die Illusion von Bewegung ist in der internationalen Animationsforschung häufig als das entscheidende Charakteristikum von Animation betrachtet worden: Animation erzeugt Bewegung dort, wo eigentlich keine ist und lässt gezeichnete Figuren laufen, Puppen tanzen, Objekte durch den Raum fliegen. Ich selbst bin der Ansicht, dass man eher den Aspekt der Belebung und Beseelung des Unbelebten in den Vordergrund stellen sollte: Zeichnungen, Puppen, Objekte werden dank händisch oder per Computer erzeugter filmischer Tricks nicht nur in Bewegung versetzt, sondern vor allem zum Leben erweckt. Genau das bedeutet der Begriff „Animation“, der sich vom lateinischen „animare“ ableiten lässt – darauf nimmt z.B. auch Sergej Eisenstein Bezug, der sich als einer der wenigen kanonischen Filmtheoretiker mit dem Animationsfilm beschäftigt hat.
Natürlich gehört die Bewegung zu dieser Belebung dazu, ist aber nicht ihr einziges Kriterium – in der Animation bekommen leblose Objekte oder zweidimensionale Zeichnungen auch eine Seele, einen Willen, Wünsche und Ziele. Viele Animationsfilme thematisieren diese Verlebendigung auch auf der inhaltlichen Ebene, sehr bekannt ist z.B. Disneys „Pinocchio“ (1940), um den es ja auch in einem Beitrag des Buches geht, aber das Motiv findet sich bereits in Émile Cohls „Fantasmagorie“ (1908), der als erster vollständig animierter Kurzfilm gilt, und ist auch in anderen Kulturen verbreitet, so z.B. in japanischen Animé wie „Ghost in the Shell“ (1995, Mamoru Oshii). Mit dem Titel unseres Buches wollten wir einerseits auf die Rolle der Bewegung in der Animation und den Animation Studies verweisen, andererseits aber auch selbst etwas in Bewegung setzen: eine gerade im deutschsprachigen Raum lange Zeit vernachlässigte Diskussion über Animation und ihre Rolle in der aktuellen Medienkultur.
Vor welche neuen Herausforderungen stellt der Animationsfilm traditionelle Theorien des (Audio-)Visuellen?
Wir haben schon gesehen, dass er sich quer zu essentialistischen Gattungszuweisungen positioniert. Gerade die aktuelle Sichtbarkeit von Animadoks stellt Fragen nach der Gültigkeit und dem Sinn einer Trennung von Dokumentation und Fiktion mit neuer Dringlichkeit. Das kann auch Diskurse über die Möglichkeiten der Manipulation von und mit (Bewegt-)Bildern befruchten – dieses Thema ist im Zeichen der Digitalisierung und digitalen Bildbearbeitung für viele Bereiche der Medienwissenschaft und -praxis virulent geworden. Oftmals nehmen wir digitale Bearbeitungen – und dabei auch Animationen – in realfilmisch wirkenden Zusammenhängen ja gar nicht mehr wahr, weil ihr Realitätseindruck so perfektioniert wurde. Was sind diese Filme dann? Realfilme? Animationsfilme? Hybridfilme, also eine Mischung aus Real- und Animationsfilm? Wie sinnvoll ist so eine Trennung überhaupt noch?
Einige Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler – z.B. Lev Manovich oder Erwin Feyersinger, der das Buch mitherausgegeben hat – vertreten schon seit längerem die These, dass eigentlich alle motion pictures eher als Animation zu verstehen sind, unter denen die per realfotografischem Aufzeichnungsverfahren hergestellten nur den quantitativ überwiegenden Teil stellen: Alle Filme versetzen ja in der Projektion statische Einzelbilder in Bewegung, nicht nur die im engeren Sinne animierten. Man muss diese provokative These nicht teilen, aber sie enthält einen wichtigen Kern: Allein die Tatsache, dass Animation innerhalb der Filmindustrie und auch innerhalb der Medienwissenschaft lange Zeit als marginales Phänomen abgetan und damit in Opposition zum „richtigen“ Film gebracht wurde, bedeutet nicht, dass sie irrelevant ist. Vielmehr lassen sich ganz zentrale Fragestellungen, gerade auch in Bezug auf unsere heutige Medienkultur gar nicht mehr ohne Einbezug von Animation beantworten.
Neben dem Buch zur Animation ist in diesem Jahr auch noch ein zweites Buch von Ihnen zum Thema Subjektivität erschienen. Um einen schönen Übergang zu schaffen: Wo und wie wird Subjektivität im Bereich Animation sichtbar?
Animation wird oft als besonders subjektive Darstellungspraxis beschrieben: Gerade im Bereich der künstlerischen Animation und des animierten Kurzfilms spielt die künstlerische Vision einzelner Filmschaffender, ihre spezifische „Weltsicht“ eine besondere Rolle. Darüber hinaus tragen analog hergestellte Animationsfilme in gewisser Weise auch die materielle Signatur ihrer Schöpferinnen und Schöpfer: eine besondere Linienführung, ein individueller Zeichenstil, Fingerabdrücke in Knetobjekten usw. – all das kann sich zum Eindruck einer persönlichen „Handschrift“ verdichten. Darüber hinaus besitzt Animation aber auch das Potenzial, subjektive Zugänge zu Personen oder Figuren zu vermitteln: In den oben angesprochenen Animadoks wird das sichtbar, wenn die emotionale Involvierung thematisiert oder dezidiert subjektive Zugänge zur Realität gesucht werden – neben den bereits genannten Titeln ist sicher „Waltz with Bashir“ (2009, R: Ari Folman) eins der bekanntesten Beispiele, auch Michel Gondrys Film „Is the Man Who Is Tall Happy?“ (2013) fällt in diese Kategorie, mit dem besonderen Kniff, dass der Regisseur und Animator hier nicht nur versucht, die komplexen Gedankengänge Noam Chomskys – im Wortsinn – nachzuzeichnen, sondern auch seine eigene Interpretation dieser Überlegungen, inklusive im Dialog auftretender Fragen und Missverständnisse.
Animierte Segmente werden aber auch häufig innerhalb von Realspielfilmen eingesetzt, um subjektive Bewusstseinsprozesse wie das Erinnern, Träumen, Fantasieren oder eine verzerrte Wahrnehmung darzustellen und durch den Modus der Animation ästhetisch vom restlichen Film abzugrenzen – dabei wird gern auch auf ihre potenziell unbegrenzten Darstellungsmöglichkeiten zurückgegriffen, mit denen sich alles irgendwie Vorstellbare auf die Leinwand bringen lässt, auch wenn es in der Realität unmöglich wäre. Eindrucksvolle Beispiele dafür finden sich in „Anleitung zum Träumen“ (2006, R: Michel Gondry), „It’s Kind of a Funny Story“ (2010, R: Anna Boden und Ryan Fleck) oder „The Diary of A Teenage Girl“ (2015, R: Marielle Heller).
Der Fokus Ihres Buches „Subjectivity across Media" liegt auf den Strategien, die verwendet werden, um Subjektivität darzustellen. Welche Darstellungen von Subjektivität kommen besonders häufig zum Einsatz und welche finden Sie besonders spannend?
In dem Buch untersuchen Expertinnen und Experten für verschiedene Medien die medienspezifischen Strategien zur Darstellung von Subjektivität in literarischen, grafisch-literarischen, audiovisuellen und interaktiven Medien, gleichzeitig werden gerade in der Gesamtschau auch medienübergreifende Formen der Subjektivitätsdarstellung sichtbar. Mich interessieren beide Aspekte: Mit meinem eigenen filmwissenschaftlichen Schwerpunkt finde ich es spannend, wie mit den audiovisuellen Mitteln des Films (und des Fernsehens) Aspekte des Mentalen dargestellt werden, die sich eigentlich gar nicht direkt abbilden lassen: Niemand kann die Gedanken einer anderen Person lesen, geschweige denn in ihren Kopf gucken. Hier interessiert mich, wie es Filme – aber eben auch andere Medien – schaffen, das nicht Sichtbare und oft mit Worten nur unzureichend Beschreibbare darzustellen, sodass wir als Zuschauerinnen und Zuschauer tatsächlich einen Eindruck davon bekommen, was im Kopf oder in der Gefühlswelt von Figuren vorgeht. Dabei kommt eine Vielzahl ästhetischer Mittel zum Einsatz, um z.B. die emotionale Einfärbung von Wahrnehmungen oder Erinnerungen ganz wörtlich durch ein spezifisches Farbspektrum anzudeuten, das sie von der Gestaltung des restlichen Films abhebt. Damit lassen sich einerseits bestimmte emotionale Stimmungen erzeugen, aber z.B. durch Bild-, Farb- und Lichtqualitäten wie Intensität, Schärfe, Kontrast auch Sinne ansprechen, die vom Film nicht direkt adressiert werden können, darunter der Geruchs- und Geschmackssinn oder der Tastsinn. Barbara Flückiger beschäftigt sich in ihrem Beitrag dezidiert mit dem Einsatz von Farbe im Film zur Repräsentation des Subjektiven.
Über das Einzelmedium hinaus finde ich es spannend, wie verschiedene Medien zwar ähnliche Verfahren verwenden, diese aber gezwungenermaßen an ihre mediale Beschaffenheit rückbinden: So ist die Abgrenzung der subjektiven Perspektive von der meist intersubjektiv vermittelten Rahmenhandlung eigentlich in allen Medien zentral, wird aber im Film oft durch Montage – und dabei häufig durch bestimmte Montagetechniken wie die Überblendung –, in der Literatur z.B. durch typografische oder das Layout betreffende Veränderungen – Kursivschrift, Auslassungszeichen, Absätze, Einrückungen – realisiert. Gerade der Blick auf die Literatur scheint mir im medialen Vergleich besonders interessant, weil sogar hier nicht ausschließlich die Sprache eine Rolle spielt, sondern eben auch grafische und visuelle Elemente, die in der klassischen Textanalyse eher vernachlässigt werden. Im Buch befassen sich Marco Caracciolo und Cécile Guedon näher mit diesem stark vernachlässigten Aspekt und stellen außerdem eine zweite Darstellungsstrategie heraus, die prinzipiell medienübergreifend eingesetzt werden kann und daher auch in vielen der Beiträge eine mal mehr, mal weniger prominente Rolle einnimmt: Metaphern, die sich sowohl sprachlich als auch visuell, auditiv und audiovisuell vermitteln lassen und für die Darstellung nicht sichtbarer, nicht fassbarer Phänomene des Mentalen und Emotionalen nicht nur in populären Medien wichtig sind, sondern auch die wissenschaftliche Diskussion über sie in zum Teil erheblicher Weise bestimmen.
- Maike Sarah Reinerth, Jan-Noël Thon (Hrsg.): Subjectivity Across Media. Interdisciplinary and Transmedial Perspectives. London/New York: Routledge, 2017.
- Franziska Bruckner, Erwin Feyersinger, Markus Kuhn, Maike Sarah Reinerth (Hrsg.): In Bewegung setzen … Beiträge zur deutschsprachigen Animationsforschung. Wiesbaden: Springer VS, 2017.