Hamburgisch: Sprachkontakt und Sprachvariation im städtischen Raum
Prof. Dr. Andreas Bieberstedt; Carolin Jürgens; Dr. Jürgen Ruge; Prof. Dr. Ingrid Schröder; Bastian Weeke, M.A.
Einleitung
Das Projekt Hamburgisch: Sprachkontakt und Sprachvariation im städtischen Raum bildet derzeit einen der zentralen Forschungsschwerpunkte der Abteilung NdSL. In dieser variations- und soziolinguistischen Studie sollen die bislang nur unzureichend verstandenen Regularitäten des hochdeutsch-niederdeutschen Sprachkontaktes in der Metropolenregion Hamburg untersucht werden, um Aufschlüsse über aktuelle Sprachwandelprozesse im Niederdeutschen zu gewinnen und das variative Spektrum in der Stadtsprache Hamburgs auszuleuchten.
Die Untersuchung erfolgt in mehreren Teilprojekten, die einen jeweils spezifischen Aspekt der Gesamtfragestellung bearbeiten und von verschiedenen Mitarbeitern der Abteilung sowie in Kooperation mit dem Lehrstuhl Niederdeutsch an der Universität Rostock verantwortet werden.
Wie der norddeutsche Sprachraum insgesamt, zeigt sich auch das Hamburgische in seinen vielfältigen Ausformungen von einer historisch gewachsenen Mehrsprachigkeit unter dominanter Beteiligung von Niederdeutsch und Hochdeutsch geprägt. Konsequenzen dieses intensiven Sprach- bzw. Varietätenkontakts sind
- auf pragmatischer Ebene eine adressatenabhängige, situativ und funktional gesteuerte Wahl der Sprachform,
- auf struktureller Ebene eine wechselseitige Beeinflussung beider Sprachsysteme mit der Integration hochdeutscher Elemente in das Niederdeutsche und niederdeutschen Interferenzen im Hochdeutschen.
Umfassende Untersuchungen dieser Phänomene stehen bisher weitestgehend aus. Hier setzt das Projekt mit seinen Fragestellungen an.
Erste Überlegungen zu Konzeption und Durchführung einer variationslinguistischen Untersuchung der Stadtsprache Hamburgs gehen auf das Jahr 2002 zurück. Die Erhebung des Datenmaterials wurde 2004 im Teilprojekt Kirchwerder begonnen; 2006 folgte das Teilprojekt Altenwerder. Aufgenommen wurden in den Teilprojekten unterschiedliche Settings:
- Aufnahme sprachbiographischer Tiefeninterviews,
- Aufnahme des intendierten Ortsdialektes durch Übersetzung von Wenkersätzen und einem freien Monolog,
- Aufnahme der intendierten Standardsprache (hochdeutscher Vorlesetext)
- Aufnahmen variationsrelevanter Kommunikationssituationen (Aufnahmen im Familien-, Freizeit- oder Arbeitsbereich).
Die Durchführung der sprachbiographischer Tiefeninterviews im Teilprojekt Biographie und Sprache wurden zum Teil im Rahmen von Projektseminaren realisiert.
Ziel des Projektes ist die Analyse des variativen Spektrums zwischen Niederdeutsch und Hochdeutsch, das als Ergebnis kontaktinduzierten Sprachwandels in der Stadtsprache Hamburgs verstanden wird.
Teilprojekt Kirchwerder
Sprachvariation aus synchroner Perspektive
(Prof. Dr. A. Bieberstedt, Universität Rostock)
Im Vordergrund des Teilprojektes stehen Sprecher und Sprechsituation – analysiert wird der gegenwärtige Sprachgebrauch niederdeutscher Dialektsprecher im Kontext rezenter Urbanisierung.
Basis der Untersuchung sind ortsfeste Dialektsprecher, die das Niederdeutsche in zumindest einer Sprachdomäne (z.B. im Familienkreis oder am Arbeitsplatz) noch aktiv verwenden. Anhand von sprachbiographischen Tiefeninterviews und Sprachdaten, die in verschiedenen Situationen erfasst worden sind, werden u.a. Phänomene des hochdeutsch-niederdeutschen Sprachkontaktes untersucht sowie Determinanten individueller Sprachvariation beschrieben.
Einen Schwerpunkt bildet hierbei die Analyse der biographischen Determinanten des Sprachgebrauchs und der Spracheinstellung.
Teilprojekt Altenwerder
Sprachvariation aus diachroner Perspektive
(Dr. Jürgen Ruge)
Teile der Peripherie Hamburgs befinden sich durch den Ausbau des Hafens und der Flugzeugwerft in grundlegenden sozioökonomischen Wandelprozessen begriffen. Davon betroffen sind insbesondere die Stadtteile Altenwerder und Finkenwerder. Durch die Umsiedlung Altenwerders in den 80er Jahren ist das traditionelle kommunikative Gefüge zerstört worden.
Zur Dokumentation des traditionellen niederdeutschen Dialektes in Altenwerder führten Mitarbeiter der Universität Hamburg in den Jahren 1979/1980 Interviews und Sprachaufnahmen mit Ortsbewohnen durch, die ihre Gemeinde kurz zuvor verlassen hatten oder deren Umzug an einen neuen Wohnort unmittelbar bevorstand. 2006-2010 wurden im Rahmen des Hamburgisch-Projekts erneut Interviews mit denselben Sprechern oder Angehörigen aus deren Familien erhoben.
Durch eine vergleichende Analyse der Daten bietet sich die Möglichkeit, Veränderungen im Sprachgebrauch der letzten 30 Jahre zu untersuchen.
Einstellungen gegenüber regionalen Sprachformen in der Großstadt: Niederdeutsch in Hamburg (DFG-Projekt)
Projektbeschreibung: Im Projekt „Einstellungen gegenüber regionalen Sprachformen in der Großstadt: Niederdeutsch in Hamburg“ wird nach den Bedingungen und Funktionen der Verwendung des Niederdeutschen und anderer regionalsprachlicher Formen im Alltagsleben der Großstadt gefragt. Uns interessiert, warum Sprecher*innen das Niederdeutsche verwenden und warum sie kulturelle Veranstaltungen gerade auf Niederdeutsch durchführen bzw. daran teilnehmen, warum sie niederdeutsche Texte verfassen oder sich für den Erhalt des Niederdeutschen einsetzen. Darüber hinaus möchten wir erfahren, wie die Hamburger Bevölkerung insgesamt das Niederdeutsche sowie die Alltagssprache in Hamburg wahrnimmt. Es sollte überprüft werden, ob die regionalen Sprachformen in Hamburg als ein besonderes, positives Ortsmerkmal wahrgenommen werden und auf diese Weise ein besonderes Identifikationspotential bieten können.
Studiendesign:
Teilstudie I (qualitativ): Um die Bedingungen des Spracherwerbs und der Sprachverwendung des Niederdeutschen in Hamburg zu untersuchen, wurden in der Teilstudie I sprachbiographische Interviews mit Akteur*innen aus verschiedenen Bereichen der Hamburger Öffentlichkeit durchgeführt. Alle Akteur*innen können entweder Niederdeutsch sprechen oder haben, wenn sie es lediglich verstehen, Berührungspunkte mit dem Niederdeutschen durch ihre Tätigkeiten in einer Hamburger Institution, einem Kulturbetrieb o. Ä. Insgesamt liegen 37 Interviews mit 39 Personen vor. Befragt wurden Personen aus fünf Untersuchungsfeldern: Kultur, Medien, Institutionen, Politik, Freizeit.
Teilstudie II (quantitativ): Darüber hinaus wird in dem Forschungsprojekt der Frage nachgegangen, wie die Menschen in Hamburg die Alltagssprache in der Stadt wahrnehmen, was sie beobachten und welche Meinung sie zu den Sprachen in Hamburg haben. Zu diesem Zweck wurde von November 2014 bis Januar 2015 eine Fragebogenumfrage durchgeführt. Insgesamt haben 689 Personen den Fragebogen schriftlich oder online ausgefüllt. 53 Fragebögen wurden von Befragungsteilnehmer*innen der Teilstudie I beantwortet.
Projektleitung: Prof. Dr. Ingrid Schröder
- Laufzeit: 2014 - 2017
- Projektfinanzierung: DFG
- Projektmitarbeiterinnen: Carolin Jürgens (bis August 2015), Lara Christine Neumann (ab November 2015)
Bisherige Publikationen
Bieberstedt, Andreas/Ruge, Jürgen/Schröder, Ingrid (Hgg.): Hamburgisch. Struktur, Gebrauch, Wahrnehmung der Regionalsprache im urbanen Raum. Frankfurt a. M. 2016.
Darin:
Bieberstedt, Andreas/Ruge, Jürgen/Schröder Ingrid: Hamburgisch. Struktur, Gebrauch, Wahrnehmung der Regionalsprache im urbanen Raum - eine Einführung. S. 7–19.
Bieberstedt, Andreas/Ruge, Jürgen/Schröder Ingrid: Kontaktinduzierte sprachliche Variation in der Hamburger Peripherie. Ein Modell zur Messung sprachlicher Konvergenz. S. 21–66.
Bieberstedt, Andreas/Ruge, Jürgen/Schröder Ingrid: Hamburger Variablenkatalog. Katalog sprachlicher Variablen zur Dialektalitätsmessung. S. 387–420.
Bieberstedt, Andreas/Ruge, Jürgen/Schröder Ingrid: Hamburger Transkriptionskonventionen. S. 421–428.
Bieberstedt, Andreas: Dialektalität im Generationenvergleich. Eine dialektometrische Analyse der Dialektalität sprachlicher Äußerungen niederdeutscher Dialektsprecher aus Kirchwerder (Hamburg). S. 91–136.
Andreas Bieberstedt: „Das hieß dann, die können kein richtiges Deutsch in der Schule.“ Autobiographische Äußerungen Hamburger Dialektsprecher zu ihrer schulischen Sprachsozialisation. S. 251–306.
Jürgens, Carolin/Schröder, Ingrid: Sprachstereotype und ihre Realisierungen im Gespräch am Beispiel des Niederdeutschen. S. 345–385.
Ruge, Jürgen: Dialekttiefe durch lexikalische Analyse messbar machen. S. 67–90.
Ruge, Jürgen: „Aso, gans rain wi fröer iss dat nich!“ Selbsteinschätzung und Fremdbeurteilung im Spiegel von Dialektalitätswerten und sprecherbiographischen Aussagen. S. 137–170.
Gastbeiträge:
Hettler, Yvonne: „Die Bremer sprechen natürlich immer dieses ‚e‘ so komisch.“ Laienlinguistische Selbst- und Fremdwahrnehmung in Bremen und Hamburg. S. 171–213.
Jürgens, Carolin: Regionale Identität per Einkaufstüte. Eine Fallstudie zum Enregisterment des Niederdeutschen in Hamburg. S. 307–343.
Wilcken, Viola: Hamburger Missingsch gestern und heute. S. 215–249.
Weitere Publikationen:
Bieberstedt, Andreas: In meinem Elternhaus wurde nur Plattdeutsch gesprochen. Sprachbiographische Konzeptionen Hamburger Dialektsprecher zum frühen Spracherwerb. In: Robert Langhanke (Hg.): Sprache, Literatur, Raum. Festgabe für Willy Diercks. Bielefeld 2015. S 205-237.
Bieberstedt, Andreas/Ruge, Jürgen/Schröder, Ingrid: Forschungsprojekt „Hamburgisch“ -Sprachkontakt und Sprachvariation im städtischen Raum“. Katalog sprachlicher Variablen zur Dialektalitätsmessung. Juli 2011. PDF-Download. Grundlegend überarbeitete Fassung des Variablenkatalogs in: Bieberstedt, Andreas/Ruge, Jürgen/Schröder, Ingrid (Hgg.): Hamburgisch. Struktur, Gebrauch, Wahrnehmung der Regionalsprache im urbanen Raum. Frankfurt a. M. 2016. S. 387–420. Mit freundlicher Genehmigung des Peter-Lang-Verlages als PDF-Download „Hamburger Variablenkatalog. Katalog sprachlicher Variablen zur metrischen Dialektalitätsmessung“. Juli 2016.
Bieberstedt, Andreas/Ruge, Jürgen/Schröder, Ingrid: Forschungsprojekt „Hamburgisch - Sprachkontakt und Sprachvariation im städtischen Raum“. Hamburger Transkriptionskonventionen. Juli 2011. PDF-Download. Grundlegend überarbeitete Fassung der Transkriptionskonventionen in: Bieberstedt, Andreas/Ruge, Jürgen/Schröder, Ingrid (Hgg.): Hamburgisch. Struktur, Gebrauch, Wahrnehmung der Regionalsprache im urbanen Raum. Frankfurt a. M. 2016. S. 421–428. Mit freundlicher Genehmigung des Peter-Lang-Verlages als PDF-Download „Hamburger Transkriptionskonventionen“. Juli 2016.
Bieberstedt, Andreas/Ruge, Jürgen/Schröder, Ingrid: Hamburgisch – Sprachkontakt und Sprachvariation im städtischen Raum. Eine Projektskizze. In: Niederdeutsches Jahrbuch. Jahrbuch des Vereins für niederdeutsche Sprachforschung 131 (2008), S. 159-183.
Neumann, Lara/Schröder, Ingrid: „Denn hebbt wi ok mal Platt schnackt.“ Codeswitching in sprachbiographischen Interviews. In: Variation – Norm(en) – Identität(en). Hrsg. von Alexandra Lenz und Albrecht Plewnia (Germanistische Sprachwissenschaft um 2020; Bd. 4). Berlin/Boston 2018, S. 41–62.
Neumann, Lara/Schröder, Ingrid: Zur Bewertung von Niederdeutsch und lokalem Substandard in Hamburg. In: Linguistik online 85, 6 (2017), S. 227-255.
Neumann, Lara/Schröder, Ingrid: Identitätskonstruktionen in sprachbiographischen Interviews. Analysen zur Funktion des Niederdeutschen in Hamburg. In: Sprachliche Variation in autobiographischen Interviews. Theoretische und methodische Zugänge (Sprache in der Gesellschaft, 35). Hrsg. von Ingrid Schröder und Carolin Jürgens. Frankfurt am Main [u.a.] 2017, S. 225-242.
Ruge, Jürgen: Dialektveränderung in drei Generationen. Untersuchungen auf lexikalischer und phonetisch-phonologischer Ebene. In: Robert Langhanke (Hg.): Sprache, Literatur, Raum. Festgabe für Willy Diercks. Bielefeld 2015. S 353-373.
Ruge, Jürgen: Veränderungen im Dialektgebrauch derselben Sprecher innerhalb von drei Jahrzehnten. In: Glaser, E./Schmidt, J.E./Frey, N. (Hgg.): Dynamik des Dialekts. Wandel und Variation. Akten des 3. Kongresses der Internationalen Gesellschaft für Dialektologie des Deutschen (IGGD). 7.-9. September 2009 an der Universität Zürich. Stuttgart 2011. S. 287-300 (Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik. Beihefte; 144)
Schröder, Ingrid: Sprachbiographie und Spracheinstellung. Niederdeutsch als Mittel der Identitätsstiftung in der Großstadt? In: Neues vom heutigen Deutsch. Empirisch – methodisch – theoretisch. Hrsg. von Ludwig M. Eichinger und Albrecht Plewnia (Institut für deutsche Sprache. Jahrbuch 2018). Berlin/Boston 2019, S. 99-120.
Schröder, Ingrid/Jürgens, Carolin: Sprachliche Variation in autobiographischen Interviews. Theoretische und methodische Zugänge. Einleitung. In: Sprachliche Variation in autobiographischen Interviews. Theoretische und methodische Zugänge (Sprache in der Gesellschaft, 35). Hrsg. von Ingrid Schröder und Carolin Jürgens. Frankfurt am Main [u.a.] 2017, S. 7-10.
Schröder, Ingrid/Jürgens, Carolin: Einstellungen gegenüber regionalen Sprachformen in der Großstadt: Niederdeutsch in Hamburg (NiH). Eine Projektskizze. In: Sprachliche Variation in autobiographischen Interviews. Theoretische und methodische Zugänge (Sprache in der Gesellschaft, 35). Hrsg. von Ingrid Schröder und Carolin Jürgens. Frankfurt am Main [u.a.] 2017, S. 11-46.
Schröder, Ingrid: Sprache, Stadt und Stereotyp – Zur sozialsymbolischen Verwendung des Niederdeutschen im urbanen Raum. In: Diachronische diatopische und typologische Aspekte des Sprachwandels. Bearb. von Martin Durrell (= Vielheit und Einheit der Germanistik weltweit. Publikationen der Internationalen Vereinigung der für Germanistik [IVG]. Hrsg. von Franciszek Grusza, Bd. 17). Frankfurt a. M. [u.a.] 2013, S. 377‑382.
Schröder, Ingrid: Plattdeutsch in Hamburg. Sprachwahl als Mittel zur Konstruktion lokaler Identität? In: Man mag sik kehrn un kanten, as man will, noch jümmer is der'n Eck, wo man ni wen is. 100. Jahrgang der Zeitschrift „Quickborn“. Festschrift. Im Auftrag des Vorstandes des "Quickborn, Vereinigung für niederdeutsche Sprache und Literatur e.V.", Hamburg, hrsg. von Wolfgang Müns. Hamburg 2010, S. 585-601.