Arbeitsstelle Mittelniederdeutsches Wörterbuch
Dieter Möhn
Gegenstand und Aufgaben
Das Mittelniederdeutsche war bis in die Neuzeit bestimmendes sprachliches Medium regionaler und überregionaler Kultur im nördlichen Europa, nicht zuletzt als Verkehrs- und Geschäftssprache der Hanse. Eine Vielzahl überlieferter Quellentexte aus weitgestreuten Anwendungsbereichen (wie Organisation, Verwaltung, Recht, Wissenschaften, Theologie, Ausbildung, Literatur) dokumentiert die zentrale Rolle, die der mittelniederdeutschen Sprache vom 13. bis 17. Jahrhundert zukam.
Abb. 1: Vorläufer der Zeitung: Mittelniederdeutsche Flugschrift zu politischen Vorgängen in Norditalien, 1509
Seit 1923 werden in der Hamburger Arbeitsstelle die mittelniederdeutschen Quellen systematisch erfasst und ihr Wortschatz dokumentiert. Auf diese Weise ist eine einzigartige Belegsammlung mit über einer Million Belegzetteln entstanden, die den Wortschatz unter zeitlichen, regionalen, sozialen und funktionalen Aspekten erschließt. Die Arbeitsstelle – es existiert keine vergleichbare Institution – hat zwei zentrale Aufgaben:
- Sie fungiert als nationale und internationale Auskunftsstelle für Nachfragen zur mittelniederdeutschen Sprache und Kultur, insbesondere im Zusammenhang mit der Hanse. Angesichts der Bedeutung der mittelniederdeutschen Sprache für die europäische Sprach- und Kulturgeschichte erreichen das Archiv regelmäßig Anfragen aus dem In- und Ausland (z. B. Baltikum, Niederlande, Russland, Skandinavien), die sich auf die Klärung einzelner Wortbedeutungen und -formen, auf den Nachweis von Verwendungsweisen und auf die sprachliche Charakterisierung einzelner Quellen beziehen. Die Repräsentanz der Belegsammlung verleiht der Arbeitsstelle die Funktion einer zentralen Institution im internationalen Verbund.
- Sie publiziert ein Wörterbuch der mittelniederdeutschen Sprache, das als Grundlagenwerk und Forschungsinstrument für zahlreiche Bedarfe dient. Dafür wird ein auf drei Bände angelegtes Handwörterbuch des Mittelniederdeutschen erarbeitet, das bislang zu zwei Dritteln des erwarteten Gesamtumfangs erscheinen konnte. Der Bearbeitungsstand des Wörterbuchs ist relativ weit fortgeschritten: Die Bände I (A–F/V) und II (G–R, in zwei Teilbänden) sind abgeschlossen. Mit 6 Lieferungen zum Buchstaben S ist derzeit etwa ein Drittel des dritten Bandes (S–W) veröffentlicht. Das Werk wird die veralteten Wörterbücher des 19. Jahrhunderts ersetzen, die infolge einer Vielzahl neu entdeckter und edierter Quellen und veralteter lexikographischer Prinzipien dem heutigen Bedarf nicht mehr genügen.
Das Wörterbuch dient vor allem drei Wissenschaftsbereichen:
- der Linguistik und Literaturwissenschaft insbesondere bei sprachhistorischen Fragestellungen;
- der Geschichtswissenschaft, der ein elementares Hilfsmittel für die Arbeit an mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Quellen zur Verfügung gestellt wird. Ein Kernbereich ist dabei die Hanseforschung, aber auch regionalgeschichtliche Aspekte gewinnen hier zunehmend an Bedeutung;
- der Kulturgeschichte, Soziologie und Volkskunde, für die das Wörterbuch zahlreiche Beispiele auch sprachlich reflektierter Ausschnitte ihrer Arbeitsgebiete bereithält.
Darüber hinaus kann das Wörterbuch auch als Informationsquelle von landeskundlich und sprachgeschichtlich interessierten Laien genutzt werden.
Die ersten Herausgeber entschieden sich für die Konzeption eines Handwörterbuchs. Im Vordergrund stand die möglichst vollständige Interpretation eines Wortes, welche durch ausgewählte Originalbelege gestützt werden sollte. Durch verschiedene, inzwischen erheblich erweiterte Kennzeichnungsverfahren innerhalb der Wörterbuchartikel können über die reine Bedeutungsangabe hinaus weitreichende Informationen zur räumlichen und zeitlichen Distribution, zu Grammatik und Pragmatik vermittelt werden.
Geschichte
Die nun bereits über 80 Jahre währende Geschichte des Mittelniederdeutschen Handwörterbuchs ist untrennbar mit der Universitätsgeschichte der niederdeutschen Philologie in Hamburg verbunden. Auf einem ersten »Mittelniederdeutschen Handwörterbuch« und weiteren Vorarbeiten des Bibliothekars und Archivars Christoph Walther beruhend, wurde 1923 der Plan zur Erstellung eines neuen mittelniederdeutschen Wörterbuchs gefasst. Neben Conrad Borchling, dem ersten Inhaber eines Lehrstuhls für niederdeutsche Philologie in Hamburg, ist als Begründerin, Bearbeiterin und Herausgeberin des Mittelniederdeutschen Wörterbuchs vor allem Agathe Lasch zu nennen. Einer zügigen und breit angelegten Materialsammlung folgend konnte schon 1928 die erste Lieferung veröffentlicht werden, der in kurzen Abständen weitere folgten. Agathe Lasch erhielt unter dem nationalsozialistischen Regime als Jüdin Berufsverbot und wurde 1942 in einem Konzentrationslager ermordet. Als Bearbeiter trat Gerhard Cordes in das Projekt ein, so dass bis Kriegsbeginn 8 Lieferungen vorlagen.
Nach einer längeren Unterbrechung und Borchlings Tod 1946 übernahm Gerhard Cordes (Kiel) aufgrund einer Vereinbarung mit der zuständigen Hamburger Behörde die Leitung des Wörterbuchunternehmens. 1956 konnte der erste Band abgeschlossen werden. Es erfolgte eine weitgehende Teilung der lexikographischen Aufgaben: in Kiel, später Göttingen bearbeitete Gerhard Cordes weiter den zweiten Band, während in Hamburg Annemarie Hübner schließlich einen für die Buchstaben S–W angesetzten dritten begann. Beide Bearbeiter wurden für die Wörterbucharbeit nicht von ihren akademischen Pflichten entlastet, dennoch gelang es, in unbezahlter Freizeitarbeit regelmäßig weitere Lieferungen zu publizieren; die Drucklegung wurde stets durch Beihilfen der Deutschen Forschungsgemeinschaft ermöglicht. Die unzureichende personelle Ausstattung des Unternehmens erschwerte zunehmend den Fortgang des Wörterbuchprojekts. Nach Gerhard Cordes’ Tod im Jahr 1985 schien die Zukunft des Mittelniederdeutschen Handwörterbuchs dann völlig ungesichert.
Angesichts der bisherigen (Hamburger) Wörterbuchgeschichte – insbesondere der durch das Schicksal von Agathe Lasch herrührenden Verpflichtung – und des unabweisbaren Bedarfs an einem lexikographischen Grundlagenwerk für das Mittelniederdeutsche übernahm Dieter Möhn 1987 die Leitung der Arbeitsstelle mit dem Ziel, die Aufgaben einer zentralen Auskunftsstelle fortzuführen und die Publikation abzuschließen.
Nach jahrelanger Unterstützung durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft steht heute eine von der Universität Hamburg getragene halbe Stelle Wissenschaftlicher Mitarbeiter (Lexikograph) zur Verfügung; das Department Sprache, Literatur und Medien stellt Mittel für zwei halbe Stellen studentischer Hilfskräfte zur Verfügung. Innerhalb des Instituts für Germanistik I kann zur Hälfte die Stelle einer Archivangestellten für die Arbeitsstelle in Anspruch genommen werden.
Arbeitsergebnisse, Zielperspektiven
Dank des kontinuierlich betriebenen Ausbaus des Wörterbucharchivs, bei dem neu edierte Quellen ebenso berücksichtigt worden sind wie aktualisierte Neuausgaben, verfügt die Hamburger Arbeitsstelle über eine repräsentative und umfangreiche Materialbasis für die anstehenden lexikographischen Arbeiten. Mittlerweile weist der Materialbestand mehr als 1.200.000 Einzelbelege in Kästen aus, die das Lexemaufkommen des Mittelniederdeutschen mit mehr als 80.000 Stichwörtern erschließen. Hinzu kommt eine stetig wachsende Zahl elektronisch verfügbarer Texte, die das Zettelmaterial ergänzen.
In den Berichtszeitraum fällt vor allem der erfolgreiche Abschluss von Band II (G–R; in zwei Teilbänden), der 2004 mit einer Dreifachlieferung (31–33) erreicht wurde. Der gesamte Band wurde Agathe Lasch, der Mitbegründerin des Projekts, gewidmet. Das beigegebene Vorwort zeichnet die zugehörige Wörterbuchgeschichte zwischen 1933 und 2004 nach, mit den jeweils tätigen Lexikographen und den von ihnen verfassten Lieferungen. Zugleich wird auf Modifikationen des ursprünglichen Konzepts eingegangen, die vor allem in den Einzelartikeln eine ausgeweitete Dokumentation der Verwendungspraxis mittels Beispielbelegen zur Folge hatten.
Den Mehrwert der Auskunftsqualität erhellt der Vergleich mit den Vorgängern des Mittelniederdeutschen Handwörterbuchs. Während sich bei Schiller/Lübben und Lübben/Walther jeweils 621 und 772 Stichwortansätze finden, bietet die finale Dreifachlieferung insgesamt 2018 Lexemansätze für den Alphabetausschnitt repa bis ruw. Hinzu kommt eine Vielzahl gesondert dokumentierter phonologischer und morphologischer Varianten zu einzelnen Stichwörtern.
Abb. 2: Beispielartikel aus dem Mittelniederdeutschen Handwörterbuch, Lieferung 31/33 (2004)
Zugleich wurde im Berichtszeitraum für Band III des Gesamtunternehmens die Wortstrecke zum Buchstaben S mit der Lieferung 34 (2005) abgeschlossen. In dieser letzten Lieferung wurden Stichwörter wie swert 'Schwert' und sweren 'schwören' mit ihrer bereits im Mittelniederdeutschen außerordentlich komplexen Semantik erarbeitet und dokumentiert.
Mit den ersten Lieferungen von Band III ist das Ziel eines Projektabschlusses wieder näher gerückt. Gegenwärtig in Arbeit ist die umfängliche Buchstabenstrecke T, die etwa drei Teillieferungen einnehmen wird.
Auskünfte und Kooperationen
Auch in diesem Berichtszeitraum erreichten die Arbeitsstelle zahlreiche Anfragen aus dem In und Ausland. Diese galten der etymologischen Deutung und Beleglage einzelner Lexeme, aber auch der Interpretation ganzer Sätze und Textausschnitte. Aufgrund des unterdessen stark vermehrten Belegpotentials des Wörterbucharchivs konnten in den meisten Fällen Deutungshilfen angeboten werden. Zahlreicher sind die Bitten um Studienaufenthalte in der Hamburger Arbeitsstelle geworden; dabei geht es aufgabenfokussierte Materialrecherchen z.B. anlässlich einer Habilitationsschrift, aber auch um Kenntnis fortgeschrittener lexikographischer Praktiken. Ausdrücklich hervorgehoben seien die intensiven Kontakte mit skandinavischen Kolleginnen und Kollegen.
Publikationen
- Mittelniederdeutsches Handwörterbuch. Begründet von Agathe Lasch und Conrad Borchling, hrsg. von Dieter Möhn. Bd. II, Lieferung 31-33 (Sp. 2049-2370): repant – rüwsam. Neumünster 2004.
- Mittelniederdeutsches Handwörterbuch. Begründet von Agathe Lasch und Conrad Borchling, hrsg. von Dieter Möhn. Bd. II, Vorwort (S. I-XIII). Neumünster 2004.
- Mittelniederdeutsches Handwörterbuch. Begründet von Agathe Lasch und Conrad Borchling, hrsg. von Dieter Möhn. Nachtrag zur Sonderlieferung 'Siglenverzeichnis. Abkürzungsverzeichnis' (S. *69-*81). Neumünster 2004.
- Mittelniederdeutsches Handwörterbuch. Begründet von Agathe Lasch und Conrad Borchling, hrsg. von Dieter Möhn. Bd. III, Lieferung 34 (Sp. 641-740): swar – swur. Neumünster 2005.
- Meier, Jürgen/Möhn, Dieter: Die Textsorten des Mittelniederdeutschen. In: Besch, Werner/Betten, Anne/Reichmann, Oskar/Sonderegger, Stefan (Hrsg.): Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung. 2. Teilbd. 2., vollst. neu bearb. u. erw. Aufl. Berlin, New York 2000. (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft; 2, 2) S. 1470-1477.
- Möhn, Dieter/Schröder, Ingrid: Lexikologie und Lexikographie des Mittelniederdeutschen. In: Besch, Werner/Betten, Anne/Reichmann, Oskar/Sonderegger, Stefan (Hrsg.): Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung. 2. Teilbd. 2., vollst. neu bearb. u. erw. Aufl. Berlin, New York 2000. (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft; 2, 2) S. 1435-1456.
- Möhn, Dieter/Schröder, Ingrid: Vorstudien zu einer mittelniederdeutschen Grammatik I. In: Niederdeutsches Jahrbuch 126 (2003). S. 7-51.