Hamburger Arbeitsstelle des Goethe-Wörterbuchs
Gegenstand und Ziele
Das seit 1966 erscheinende Goethe-Wörterbuch (GWb) dokumentiert als größtes semasiologisches Autorenwörterbuch der Germanistik den Wortschatz Johann Wolfgang Goethes in rund 90.000 Stichwörtern und gestützt auf circa 3,3 Mio. Belegexzerpte. In alphabetisch angeordneten Wortartikeln wird der spezifische Individualstil Goethes, wie er sich in der Überlieferung eines extrem weitgefächerten Textsorten- und Bereichsspektrum zeigt, in Wortbedeutung und -gebrauch mittels genauer hierarchischer Gliederungsstruktur sowie reichhaltiger Zitat- und Stellenbelegdarbietung herausgearbeitet. Bei gewichtigen Wörtern informiert ein Vorspann etwa über die Schwerpunkte und Verschiebungen des Gebrauchs. Am Schluß des Artikels machen Verweise auf zugehörige Wortbildungen und Synonyme auf Strukturen im Wortschatz aufmerksam.
Als umfassendes Instrument zum präzisen Textverständnis dient das GWb innerhalb der Goethe-Philologie zunächst Interpreten, Kommentatoren und Übersetzern; darüberhinaus ist es auch eine bedeutende Informationsquelle für Wissenschafts- und Kulturgeschichte, Begriffs- und Ideengeschichte überhaupt. Der Sprachwissenschaft bietet es neben repräsentativen wortgeschichtlichen Funden zur Formationsepoche unserer Gegenwartssprache ein solides Fundament für jede umfassende Darstellung des Deutschen in seiner kultursprachlichen Dimension.
Ein Beispiel aus der laufenden Artikelarbeit (von A. Vierhufe):
Im Zusammenhang mit seiner Farbenlehre beschäftigte sich Goethe intensiv mit den Farbbezeichnungen der Griechen und Römer, wie u.a. die Zusammenstellung der „Farb-Terminologie“ der Antike von Friedrich Wilhelm Riemer zeigt, die im historischen Teil der Farbenlehre abgedruckt ist (vgl. WA II. Abt., Bd. 3, 56-61).
Korall als Bezeichnung für einen roten Farbton ist bereits in der Antike geläufig und findet sich in allen Epochen vor allem in poetischer Sprache. In dieser Form und Bedeutung findet sich Korall (im Gegensatz zu Koralle) bei Goethe nur ein einziges Mal, als Variante im Apparat der Weimarer Ausgabe nachgewiesen.
Es handelt sich – auf den ersten Blick - um einen Übersetzungsbeleg aus Lukrez, De rerum natura, Buch II, V. 802-805. Lukrez beschreibt hier das Changieren des Taubengefieders im Sonnenlicht: „An dem Gefieder der Tauben, das ihnen den Hals und den Nacken / Rings umkränzt, kannst dieses du sehn im Strahle der Sonne: / Anders gewandt erscheinet es rot, im Glanz des Pyropus, / Wieder anders, Lasur, in grüne Smaragden gemischet.“ (vgl. WA II. Abt., Bd. 3, 62-66). Das handschriftliche Material zeigt die Änderung in Vers 805: „Lasur über Korall“ (vgl. WA II. Abt., Bd. 3, 387). Goethe orientiert sich an Knebels Lukrez-Übersetzung, über deren Probleme, Fragen und v.a. auch über poetische Hürden der Übertragung er bereits ab 1805 (bis zur Drucklegung 1821) rege mit Knebel korrespondiert und diskutiert. Wiederholt bittet Knebel Goethe um Rat, lässt einzelne Textstellen prüfen und geht auf Änderungsvorschläge ein (vgl. z.B. Briefe Knebel an Goethe von 2.12.1805, 6.12.1805, 30.12.1805, 9.10.1807; Goethe an Knebel 7.12.1805, 25.12.1805, 7.10.1807). Wie akribisch die Text- und Übersetzungsarbeit für eine sowohl zuverlässige als auch poetisch qualitätsvolle Übertragung gerade auch im Hinblick auf die Farbbezeichnungen vorgenommen wurde, zeigt ein Schreiben Knebels an Goethe (6.12.1805): „Ich habe eine wichtige Bitte an Dich [...], daß Du in der Abschrift, die ich Dir kürzlich zuschickte [vgl. Knebel an Goethe, 2.12.1805; es handelt sich um eben die Verse des 2. Buches aus Lukrez, De rerum natura, die Goethe im historischen Teil seiner Farbenlehre mit Abweichungen in Knebels Übersetzung abdruckt], sogleich ein Wort vernichten, und, statt dessen, ein anderes setzen mögest. Nemlich gleich vom Anfang im vierten Vers bitte ich, statt ‚Oder das schwärzliche nicht’ zu setzen: ‚Oder was schwarz aussieht, aus schwarzem’. Ich setzte nemlich ersteres, um, dem Original gleich, den Ausdruck zu verändern; ich finde aber, daß der bestimmte Ausdruck, quae nigrant, was schwarz aussieht, hier nothwendig ist. Dergleichen Streitigkeiten des Zierlichen mit dem Bestimmten, weshalb Quintilian dem Lukrez eine große Eleganz beilegt [...], machen die Uebersetzung zu einem Gegenstande einer ewigen Verbesserung.“ Knebels Änderung und seine Argumente sind einsichtig, an manchen Stellen geht Exaktheit der Übersetzung auf Kosten poetischer bzw. stilistischer Eleganz. Schwer lässt sich jedoch Goethes (zuerst gesetztes) Korall verstehen, das er gemäß Knebels Übersetzung in Lasur ändert; eine stilistische Variante, wie sie Knebel anspricht (etwa zur Vermeidung einer Wiederholung von rot), ist in diesem Fall kaum anzunehmen, da das Original caeruleus, ‚blau’ vorgibt. Lasur meint hier nicht den transparenten Farbauftrag, sondern die tiefblaue Farbe des Lasursteins (bei Goethe: Lapislazuli). Da bei Lukrez jedoch ‚blau’ steht, wäre in der Variante – entweder aus eigener Anschauung heraus oder aus stilistischen Gründen – eine Farbbezeichnung zu erwarten gewesen, die nur eine abweichende Nuance der Farbe wiedergibt. Auch farbtheoretisch findet sich keine Erklärung, da es sich bei Blau und Rot nicht um Komplementärfarben handelt. Dass Goethe sich jedoch in Einzelfällen ganz gezielt gegen Knebels Übersetzung entschied (vgl. hierzu z.B. GWb, Bd.1, s v Abbild, Anm. 1) und auch bei der Übersetzung anderer Originale dichterische Freiheit beanspruchte, zeigt eine Briefstelle, die als – philologisch freilich nicht abgesicherte – Erklärung für den Korall-Beleg dienen könnte. Im Zusammenhang mit seiner Übersetzung von Teilen des Buches „De coloribus“ (Theophrast oder Aristoteles; vgl. WA II. Abt., Bd. 3, 24-55) berichtete Goethe von seinen fast unbewusst vorgenommenen „Konjekturen“ am originalen Text: „Merkwürdig ist es, daß im Schreiben, besonders aber im Abschreiben oft, bei vielem Wiederholen derselben Sache, das Entgegengesetzte geschrieben wird. So emendirte ich, bey Übersetzung des theophrastischen Farbenbüchleins, Schwarz in Weiß, oder umgekehrt, ich erinnere mich selbst nicht mehr. Unser Freund Wolf [Friedrich August, Altphilologe] freute sich darüber. Er habe, sagte er, zum Spaß schon einmal seinen Schülern vorausgesagt, daß dergleichen Emendationen vorkommen würden.“ (an C.F.L. Schultz, 19.7.1816; vgl. WA IV. Abt., Bd. 27, 103).
Zur Geschichte und Entwicklung des Unternehmens
Das GWb wurde 1946 durch den klassischen Philologen und Goethe-Forscher Wolfgang Schadewaldt an der damaligen Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin begründet. Es entstanden Arbeitsstellen in Berlin (1947) mit Außenstelle Leipzig (1948), in Hamburg (1947) und in Tübingen (1951). Sie hatten anteilig zunächst die langwierige Stichwort-Exzerption auf der Grundlage der 143-bändigen ‚Weimarer Ausgabe‘ und ergänzender Editionen zu leisten; über das so entstandene (und durch Nachexzerption ständig ergänzte) Belegarchiv verfügt jede der Arbeitsstellen vollständig. Nach vorbereitenden Wortmonographien, Modellartikeln u.a. stand die Konzeption des Gesamtwerk-Wörterbuchs 1966 in den Grundzügen fest (vgl. Wolfgang Schadewaldts Einführung zu Bd. I). Konzeptionelle und organisatorische Initiativen der Göttinger Akademie der Wissenschaften, seit 1961 Trägerin der Hamburger Arbeitsstelle, brachten zu Beginn der 80er Jahre eine erhebliche Temposteigerung der Arbeiten. Seit 1998 nimmt für die drei Trägerakademien (Berlin-Brandenburg, Göttingen, Heidelberg) eine gemeinsame ‘Interakademische Kommission’ mit turnusmäßig wechselnder Federführung die Leitung des GWb wahr. Unter ihrer Federführung wurde ein neuer Arbeits- und Zeitplan für die Fertigstellung des GWb zum Jahr 2025 vorgelegt. Zudem greift seit Januar 2006 ein gemeinsam von der Kommission und den drei Arbeitsstellenleitern erstelltes Straffungskonzept für die Artikelarbeit ab dem Buchstaben L.
Organisation der Wörterbucharbeit
Die (laut Soll) 17 wissenschaftlichen Angestellten der drei Arbeitsstellen legen alle 10 Monate dem Verlag den Umfang einer Wörterbuchlieferung in elektronischer Form vor. Pro Lieferung sind durchschnittlich inzwischen 60.600 Belege lexikographisch zu verarbeiten. Ein wichtiger Qualitätsgarant ist die zweimalige Kritik eines jeden Artikels, einmal arbeitsstellenintern, zum anderen schriftlich durch eine externe Arbeitsstelle. Die redaktionelle Verantwortung für eine Lieferung wechselt im Turnus zwischen den Arbeitsstellen. Etwa alle drei Jahre treffen sich die Mitarbeiter der einzelnen Arbeitsstellen zur Klärung konzeptioneller, methodischer und organisatorischer Probleme. Das jüngste Treffen dieser Art fand im März 2004 in Tübingen statt.
An der Hamburger Arbeitsstelle waren im Berichtszeitraum folgende Wissenschaftler(innen) beschäftigt: Dr. Elke Dreisbach, Dr. Armin Giese (bis September 2004), Dr. Bernd Hamacher, Dr. Rüdiger Nutt-Kofoth (halbtags), Priv.-Doz. Dr. Georg Objartel (Arbeitsstellenleiter bis März 2005), Dr. Christiane Schlaps (Arbeitsstellenleiterin seit September 2005), Dr. Almut Vierhufe (seit Oktober 2004, halbtags), ferner eine Verwaltungsangestellte (Juliane Kootz, halbtags) sowie vier studentische Hilfskräfte. Die Arbeitsstelle wird im Rahmen des Bund-Länder-Abkommens („Akademienprogramm“) je zur Hälfte aus Mitteln des Bundes und des Hochschulamtes der Behörde für Wissenschaft und Kunst der Freien und Hansestadt Hamburg finanziert.
Herausgeber des GWb sind die drei Trägerakademien. Die Leitung des Unternehmens obliegt der ‘Interakademischen Kommission für das GWb’ (s. o.). Für die Göttinger Akademie sind Kommissionsmitglieder die Herren Prof. Dr. Wilfried Barner und Prof. Dr. Heimo Reinitzer (Projektleiter).
Weitere Aufgaben
Die wichtigsten Aufgaben des GWb sind derzeit die Umsetzung des neuen Straffungskonzepts in der Artikelarbeit und die Sicherung der Zugänglichkeit des Wörterbuchs auch in elektronischer Form. Aktuell sind die ersten drei Bände (retro-)digitalisiert und unter
http://www.GWB.uni-trier.de bzw. demnächst unter http://www.goethe-woerterbuch.de (kostenfrei) im Internet zugänglich; die weiteren Bände werden folgen.
Interessierten Wissenschaftlern steht vor Ort in der Forschungsstelle als eigenständiges Arbeitsinstrument das (über eine kommentierte Wortliste erschlossene) Archivmaterial für die gesamte Alphabetstrecke zur Verfügung, außerdem eine Datenbank zur Wortbildung und Synonymik sowie weitere arbeitsstelleninterne Hilfsmittel. Auf die vielfältigen Nutzungsmöglichkeiten des Materials insbesondere von literatur- und sprachwissenschaftlicher Seite sei an dieser Stelle nachdrücklich hingewiesen.
Publikationen
- Das GWb erscheint im Verlag W. Kohlhammer, Stuttgart. Im Berichtszeitraum wurden ausgeliefert:
- Lieferung IV 8: herandrücken - herumjagen, 2003 (Hamburger Anteile: herauf – heräugeln; Herr – herrnhutisch; herrufen - hertrotten)
- Lieferung IV 9: herumkämpfen - hin, 2003 (Hamburger Anteile: herunter – herunterzu; hic, haec, hoc; Hieb – hienieden; hieracium – Hieronymus; hierselbst – hierzwischen; hievon – Himeros; himmelan – himmelweit; hin)
- Lieferung IV 10: hinab - hinzutreten, 2003 (Hamburger Anteile: hinab – hinarbeiten; Hindin – hineinzwingen; hinum – hinwärts)
- Lieferung IV 11: Hinzutritt - Hosenknopf, 2004 (Hamburger Anteile: Hochaltar – hochfühlend; Hochzeit – Hochzeittag; hoffen; Hoffnung – Hoffnungszelt; hold – Holdchen; Hölle – höllisch; hören)
- Lieferung IV 12: Hosenscheißer - inhaftieren, 2004 (Hamburger Anteile: Hülle – Humus; hundert – hundertzüngig; Idea – ideieren; Individualausmessung – inefficacitas)
- Lieferung V 1: Inhalt - jammern, 2005 (Hamburger Anteile: innig – Innigung; Insel – inskünftig; inundieren – inwieweit; Ironie – ironisch; Israel – Issop; j, J – ja; Jalousie - jammern)
- Lieferung V 2: Jammernachbar - kanonieren, 2005 (Hamburger Anteile: Jammernachbar - ³je; jedoch – jemand; jenseit – Jesuskindlein; Journal – Journalwesen; Juda – Jugendzustand; k, K – Kaiserzeit; Kampf - Kampfunternehmung)
- In Druck gegeben wurde außerdem die Lieferung 3 des fünften Bandes: Kanonikat - Kindheit. Im März 2006 steht die Artikelarbeit im Buchstaben L.
Weitere Veröffentlichungen (in Auswahl)
- Bernd Hamacher, „Ideen über ‚Ideen’. Das Goethe-Wörterbuch als Spannungsfeld aktueller disziplinärer und methodischer Herausforderungen.“ In: Grenzen der Germanistik. Rephilologisierung oder Erweiterung? DFG-Symposion 2003. Hg. v. Walter Erhart. Stuttgart/Weimar: Metzler, 2004 (= Germanistische Symposien-Berichtsbände; Bd. 26), S. 502-520.
- Bernd Hamacher/Myriam Richter: „Das Goethe-Wörterbuch. (Wissenschafts-)Geschichte einer deutschen Institution.“ In: Geschichte der Germanistik. Mitteilungen 27/28 (2005), S. 88-90.
- Georg Objartel: „Johann Wolfgang von Goethe.“ In: Lexikologie. Lexicology. Ein internationales Handbuch zur Natur und Struktur von Wörtern und Wortschätzen. [...] Hrsg. von D. Alan Cruse/Franz Hundsnurscher/Michael Job/Peter Rolf Lutzeier. 2. Halbband. Berlin/New York, de Gruyter, 2005 (= Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft; 21.2), S. 1489-1493.