Verschiedene Aspekte der bulgarischen Narrative der Wirtschaftsmigration nach 1989
30. November 2022, von OESt
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Ass. Prof. Dr. Maria Endreva, Department of German and Scandinavian Studies at Sofia University ‘St. Kliment Ohridski’, Bulgaria / Institut für Germanistik, Universität Hamburg "Verschiedene Aspekte der bulgarischen Narrative der Wirtschaftsmigration nach 1989"Vortrag im Rahmen der Ringvorlesung Osteuropastudien WiSe 2022/23: Einwanderung, Exil, Flucht – Formen der Migration im und aus dem östlichen Europa Moderation: Prof. Dr. Anja Tippner Termin: Mittwoch, 30.11.22, 16–18 Uhr Foto: Maria Endreva |
Zum Vortrag
Nach dem Verlust des Kalten Kriegs und dem Zusammenbruch des Kommunismus wurden die ehemaligen sozialistischen Länder in die komplizierte soziale und ideologische Transformation hineinversetzt, die von einem kollektiven Klassenkampf gegen den Kapitalismus in einen individuellen Wettbewerb um mehr Wohlstand (sprich Konsum) und sozialen Aufstieg überging. Dies ging mit der Durchsetzung neuer Narrative und Ästhetiken einher, die den ideologischen und politischen Wandel erklärten, legitimierten und vorantrieben.
Unter den einflussreichsten Erzählungen nach der Wende ist die der Auswanderung.
Die Erzählungen von Flucht und Migration aus Bulgarien waren während des Sozialismus ein unerwünschtes und unterdrücktes Narrativ. Nach der Wende kam es mit allen Zeichen des Heldenhaften und Abenteuerlichen versehen und handelte von Befreiung und Überwindung der ideologischen Verblendung. Diese Art Erzählung von der Emigration wurde von Dissidenten wie Georgi Markov getragen, der von der bulgarischen Staatssicherheit mit der Hilfe der brüderlichen KGB ermordet wurde, weil er von London aus das bulgarische Volk mit seinen Radioreportagen über die Missstände des Kommunismus aufklären wollte. Die paradigmatische Struktur dieses Narrativs war: Nur jenseits des Eisernen Vorhangs gibt es Freiheit und ein richtiges moralisch begründetes Leben.
Nach der Wende transformiert sich die Erzählung von der Migration zu einer Art picaresken Abenteuergeschichte des (wirtschaftlichen) Erfolgs, wo sich der Auswanderer in einem Milieu der Konkurrenz nach verschiedenen Schwierigkeiten bewährt und meistens zu einem Konsumlevel gelangt, das das der meisten Bulgaren übersteigt. Seine Figur wird dann in der Popkultur zum Vorbild des Erfolgs. Dieses starke Narrativ im öffentlichen Diskurs gab die Antriebskraft für die massiven Migrationswellen der letzten 25 Jahre und diente als Leitstern für Tausende Menschen, die ihren Lebenslauf darauf richteten. Das Heldennarrativ schließt in sich natürlich auch das Element der Rückkehr, wo der Held weiser ist und das Recht erwirbt, die anderen zu belehren.
Es gibt jedoch eine Kehrseite des Narrativ über die erfolgreiche Auswanderung und die ist sehr stark mit den verschwiegenen Erlebnissen, Erfahrungen und Emotionen verbunden, die die Migranten in Bulgarien nicht erzählen, wenn sie zurückkommen. Gerade das Geheimgehaltene bildet auch ein Narrativ, das wiederum von den Einheimischen in Bulgarien formuliert wird. Es handelt von Schwierigkeiten, Erniedrigungen, Mangel an Anerkennung und Bedeutungslosigkeit der Migranten im Aufnahmeland und Verlust der Beziehungen in Bulgarien. Auch ihr materieller Wohlstand und somit ihr Erfolg wird in Frage gestellt.
Im Vortrag werde ich versuchen, diese verschiedenen Aspekte des Migraitonsnarrativs anhand von literarischen Texten oder Beispielen aus dem öffentlichen Diskurs zu veranschaulichen und das Narrativ der Migration aus der Sicht der Nichtausgewanderten zu erörtern.
Ringvorlesung Osteuropastudien WiSe 2022/23:
"Einwanderung, Exil, Flucht – Formen der Migration im und aus dem östlichen Europa"
Gerade erlebt Deutschland durch Geflüchtete aus der Ukraine und der Exilierung russischer oder belarussischer Intellektueller Formen der Migration, die nach der Systemwende 1989/1991 und dem Ende des II. Weltkriegs historisch geworden zu sein schienen. Hierdurch treten andere Formen der Migration wie Arbeitsmigration, nomadische oder transnationale Lebensentwürfe in den Hintergrund, die in den letzten beiden Jahrzehnten die Wahrnehmung und öffentliche Diskussion des Themas dominiert haben. Die Ringvorlesung will die verschiedenen Formen von Exil, Flucht und Migration zwischen Deutschland und Mittelosteuropa und Osteuropa in den Blick nehmen und analysieren. Das Ziel der Vortragsreihe ist es, Formen geographischer und kultureller Mobilität aus dem Blickwinkel verschiedener Disziplinen (Geschichte, Kulturwissenschaft, Ethnologie, Literaturwissenschaft, Politikwissenschaften) zu beleuchten. Ein besonderer Schwerpunkt wird auf der Differenzierung von freiwilliger vs. erzwungener Migration (Flucht, Vertreibung, Exil) liegen.
Verantwortliche Organisation:
Prof. Dr. Anja Tippner, Osteuropastudien / Slavistik, UHH; Prof. Dr. Monica Rüthers, Geschichte, UHH; Prof. Dr. J. Otto Habeck, Ethnologie, UHH
In Zusammenarbeit mit DGO, Landeszentrale für Politische Bildung Hamburg, IKGN, HSU
Programm der Ringvorlesung
23.11.22 | Dr. Miriam Finkelstein (Institut für Slawistik, Universität Graz/Berlin) |
Weit weg vom Paradies. Sowjetische und postsowjetische Migrations- und Fluchterfahrungen in der russophonen Gegenwartslyrik |
30.11.22 | Ass. Prof. Dr. Maria Endreva (Department of German and Scandinavian Studies at Sofia University ‘St. Kliment Ohridski’, Bulgaria) |
Verschiedene Aspekte der bulgarischen Narrative der Wirtschaftsmigration nach 1989 |
07.12.22 | Ass. Prof. Adriana Nadia Helbig (Department of Music, University of Pittsburgh) | Romani Musical Resistance During Russia’s War in Ukraine Der Vortrag findet nur online über Zoom statt. Zu den Zugangsdaten (nur am 07.12.) |
14.12.22 | Prof. Dr. Victor Dönninghaus (Nordost-Institut, Institut für Kultur und Geschichte der Deutschen in Nordosteuropa (IKGN) an der Universität Hamburg) |
„Im Frühjahr fahren wir nach Amerika“: die Auswanderung von Russlanddeutschen aus der Sowjetunion im Herbst 1929 |
21.12.22 | Halyna Roshchyna, M.A. (Helmut-Schmidt-Universität, Universität der Bundeswehr Hamburg) |
Ukrainische (E)migration(en) im 20. Jahrhundert und die Entstehung ukrainischer Diaspora |
11.01.23 | Prof. Dr. Tea Sindbæk-Andersen (Department of Cross-Cultural and Regional Studies, Universität Kopenhagen) |
Mnemonic Migration: Bosnian war literature and the sharing of memories across Europe |
18.01.23 | PD Dr. Tsypylma Darieva (Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien (ZOIS), Berlin) |
New Russian Exile and Migrants’ Activism in Georgia |
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