Call for PapersJenseits der Stärke: Imaginarien schwacher Kräfte in Kunst, Literatur und Wissenschaft
30. Juni 2025, von Webredaktion IfG
Tagung der DFG-Kolleg-Forschungsgruppe »Imaginarien der Kraft«
4.–6. Juni 2026, Warburg-Haus Hamburg
Organisiert von Caroline Adler, Franca Buss und Gerd Micheluzzi

Mit Schwäche oder Schwachheit (frz. faiblesse, eng. weakness, ital. debolezza, lat. infirmitas etc.) verbindet sich gerade in postpandemischen Zeiten zumeist ein pathologisch-degenerativer Befund: Ein defizitärer Zustand, der von der Norm bzw. vom Ideal abweicht – ein Zustand der Asthenie, der Erschöpfung, der Ermüdung oder Ohnmacht, der Vulnerabilität oder Fragilität, der Trägheit, Weichheit oder Beeinflussbarkeit, im künstlerischen Kontext mitunter des Versiegens schöpferischer Kräfte. Umgekehrt hat die Rede von der Schwäche aber auch immer Anlass geboten, über subtile Kräfte jenseits von Dominanz, Kontrolle oder Überwältigung nachzudenken. Dazu gehören Fragen der Intensität, des Klein- und Kleinstskaligen, der Potenzialität dessen, was als klein oder schwach bestimmt wird, sowie der Entfaltung, des (Wieder-)Aufkeimens oder des (Wieder-)Erstarkens produktiver Zeugungskräfte. Die Schwäche ist somit nicht nur als Gegenbegriff zur Stärke zu verstehen, sondern konstituiert auch eigene Formen der Wirkmächtigkeit, die der binären Opposition von stark und schwach entgegenstehen.
Die interdisziplinäre Tagung Jenseits der Stärke: Imaginarien schwacher Kräfte in Kunst, Literatur und Wissenschaft nimmt diesen Befund zum Ausgangspunkt, um die Verschränkungen und produktiven Ambivalenzen schwacher Kräfte und ihre ästhetischen Artikulationen in den Blick zu nehmen.
Historisch betrachtet war das Nachlassen der Kräfte bis ins 17. Jahrhundert ein naturphilosophisches Axiom. Kräfte, die beispielsweise Bewegung verursachen, erschöpften sich zwangsläufig; entweder aufgrund eines widerständigen Mediums oder durch die Verausgabung ihrer selbst. Leonardo da Vinci verleiht dieser Vorstellung eine poetische Form, wenn er im Kontext seiner Überlegungen zum impetus der Bewegung und ihrer Ursache eine suizidale Sehnsucht nach Ruhe, letztlich ihrem eigenen Tod nachsagt. Erst mit dem bei Galilei erwähnten Konzept der Trägheit (inertia), später dann bei Newton und Descartes, werden Erschöpfung und Ermüdung schrittweise externalisiert und als alleinige Folge äußerer Widerstände, nicht mehr als inhärente Eigenschaft der Kraft betrachtet. Gleichzeitig zeigt die moderne Physik mit der schwachen Wechselwirkung, dass Schwäche auch als eigenständige Kraft auftreten kann, gilt sie doch neben Gravitation, elektromagnetischer und starker Wechselwirkung noch heute als eine der vier Grundkräfte.
Bereits hier deutet sich an, dass die Schwäche und ihre begrifflichen Derivate sowohl als Zustand als auch als Qualität verstanden werden können: im Sinne eines Gegenbegriffs zur Stärke oder eines Potenzials, das sich als geringe Intensität in den unteren Bereichen einer kontinuierlich gedachten Kräfte-Skala als Vermögen wiederfindet. In diesem Zusammenhang rücken gerade jene Konzeptualisierungen in den Fokus, die sich mit besonders klein- und kleinstskaligen, feinen oder subtilen Kräften befassen – sowohl räumlich als auch zeitlich. So spricht Seneca in seinen Naturales quaestiones von „Dingen, die im Geheimen riesige Kräfte entwickeln“ können und Samenkörnern, die „obgleich klein“ auf geeignetem Boden „ihre Kräfte entwickeln und aus dem kleinsten Anfange das größte Wachstum entfalten“. Goethes Rede von den „unmerklichen Kräften“, Stifters Interesse an den kleinen Wirkungen natürlicher Kräfte und Benjamins Idee von der „schwachen Kraft des Messianischen“ bieten Stichworte, von denen aus sich die Idee einer verborgenen Wirkmächtigkeit schwacher Kräfte weiterentwickeln ließe. Damit stellt sich zugleich die Frage nach der Grenze zur Stärke und deren Überschreitung. Es ist diese Offenheit und Unbestimmtheit, die die schwachen Kräfte entgegen ihrer Zuschreibungen zu einer wirkmächtigen Metapher machen. Im europäischen Kontext ist etwa an die „Achillesferse“ zu denken, die sich im Anschluss an die mythologische Erzählung zum Synonym für körperliche oder systemische Schwachstellen entwickelt hat und bis in Darstellungen der Populärkultur weiterverfolgt werden kann – wie beispielsweise das Kryptonit bei Superman.
Eine paradoxe Umwertung der Schwäche, die diese nicht als bloßes Defizit, sondern vielmehr als Bedingung für eine höhere Form der Stärke versteht, findet sich in Paulus’ zweitem Brief an die Korinther: „Die Kraft wird in der Schwachheit vollendet“ und „Wenn ich schwach bin, dann bin ich mächtig.“ Praktisch ausgestaltet zeigt sich eine solche Theologie der Schwachheit schließlich in der asketischen Tradition des Christentums. Bewusste körperliche Schwächung, etwa durch Fasten oder Nachtwachen, wird hier zum Prinzip einer spirituellen Kraftgewinnung erhoben. Heinrich von Seuse beschreibt diesen Zusammenhang prägnant, wenn er die „entschwindende Kraft“ als notwendige Voraussetzung für seinen Kontakt mit Gott benennt.
Für die neuzeitliche Kunst hat nicht zuletzt Platons Ion und die dort geschilderte Lehre der Begeisterung (enthousiasmos) einen entscheidenden Anstoß geliefert. Zwar wird den Dichtenden zugesprochen, selbst zu begeistern und in den Bann zu ziehen, nicht jedoch aus eigener Kraft, sondern aus einer Schwäche heraus, die sie für die göttliche Begeisterung (theia dynamis) empfänglich macht und sie so wiederum zur Ausübung ihrer Kunst ermächtigt. Dergestalt wird die Schwäche zum zentralen, gleichfalls ambivalenten Kriterium schöpferischen Schaffens aufgewertet: Erschöpfung, Acedia und (nicht immer produktive) Phasen des Stillstands sind dabei ständige Begleiter des künstlerischen Ingeniums. Dürers Melancholia I von 1514 gilt als ikonische Darstellung eben dieser Ambivalenz, indem die personifizierte Melancholie inmitten der Attribute von Kunst und Wissenschaft sitzt, ohne ihr Potenzial zu nutzen. In der romantischen Kunsttheorie begreifen Novalis und Schelling die kreative Erschöpfung nicht mehr als bloßes Hindernis, sondern als notwendigen Gegenpol zum schöpferischen Rausch, als Bedingung für Reflexion und Einbildungskraft. Auch in der chinesischen Ästhetik der Pinselmalerei wird Schwäche nicht als Defizit, sondern als Bedingung der Kraft (qì/ki) verstanden: Sie ermöglicht eine Bewegung, die nicht auf unmittelbarer Durchsetzung beruht, sondern auf fein abgestimmter Resonanz.
Bei Nietzsche schließlich wird die Erschöpfung zum Symptom eines ganzen Zeitalters und macht das erschöpfte Subjekt zum Seismographen kulturellen Kräfteverfalls. In der Moderne markieren Schwäche und Erschöpfung mithin die Grenzen des zum Mythos geronnenen Versprechens von Fortschritt, Autonomie, Produktivität und Selbststeigerung und werden zunehmend selbst zum Gegenstand philosophischer und kulturwissenschaftlicher Reflexionen. Gegenerzählungen zum Narrativ einer heroischen Moderne plädieren für eine Epistemologie, die Vorläufigkeit und Unabgeschlossenheit nicht als Mangel, sondern als ethische und ästhetische Qualität begreift. Die hier skizzierten, in der Forschung bisher nur ansatzweise beleuchteten schwachen Kräfte werfen eine Reihe von Fragen auf, die wir im Rahmen der Tagung jenseits einer nur binären Gegenüberstellung von Schwäche und Stärke aus verschiedenen historischen, disziplinären sowie kulturellen Perspektiven beleuchten wollen: Welche je spezifischen Qualitäten zeichnen schwache Kräfte aus? Welche Ästhetiken fördern sie in ihren jeweiligen Diskursfeldern und Kontexten zu Tage? Wie wird mit Widerständen und Schwellen- und Grenzbereichen hin zur Stärke umgegangen?
Beiträge zur interdisziplinären Tagung können sich diesen Fragen unter anderem über folgende Themenfelder nähern:
- Paradoxien bzw. Umkehrungen von schwachen Kräften, die sich angesichts ihrer Skalierung, Stetigkeit, Flexibilität oder Fragilität wiederum als stark erweisen. Exemplarisch sei auf den sprichwörtlichen Tropfen hingewiesen, der auch als künstlerisches Motiv den Stein zu höhlen und Ketten zu sprengen vermag, oder auf elastische und spröde Materialien, die sich in und durch die Formveränderung entweder widerständig gegen Krafteinwirkungen zeigen oder in aufgelöster Form zu neuen Verbindungen führen.
- Produktionsästhetische Verfahren, die sich in der Verlangsamung bzw. der Langsamkeit, dem Zögern, dem Unbestimmten, Unabgeschlossenen und Flüchtigen sowie dem Ephemeren, dem Entzug oder der Serialität und Wiederholung zeigen und die nicht als bloße Abweichung vom produktiven Ideal zu verstehen sind, sondern als eigenständige ästhetische Verfahren. Sie können ihren Ausdruck beispielsweise im non finito, in literarischen oder in filmischen Leerstellen finden.
- Formen ästhetischer Artikulationen schwacher Kräfte, die das Kleine, Leise, zeitlich wie räumlich Ausgedehnte, Entfernte oder Zarte konturieren und sich beispielsweise bildlich in verblassender Farbigkeit, zittriger Linienführung, zierlichen Strukturen, kleinsten Details oder dem Vorläufig-Skizzenhaften äußern. Klanglich oder sprachlich können sich solche schwachen Kräfte etwa in Motiven des Flüsterns, Hauchens oder Rieselns zeigen.
Beiträge für die Tagung können auf Deutsch oder Englisch eingereicht werden. Ein passives Verständnis beider Sprachen wird vorausgesetzt. Besonders willkommen sind auch Beiträge, die eine außereuropäische Perspektive auf schwache Kräfte und ihre ästhetischen Artikulationen einbringen. Es ist eine Publikation der ausgearbeiteten Vorträge als Tagungsband in der Reihe »Imaginarien der Kraft« (De Gruyter) geplant.
Bitte senden Sie Ihre Beitragsvorschläge mit einem 1–2seitigen Exposé und dem Stichwort »Schwache Kräfte« in der Betreffzeile bis zum 30. September 2025 an: imaginarien.der.kraft"AT"uni-hamburg.de
Die Kosten für die An- und Abreise sowie die Unterkunft werden vom Veranstalter übernommen.
Kontakt:
DFG-Kolleg-Forschungsgruppe »Imaginarien der Kraft«
Gorch-Fock-Wall 3, 1. Stock (links)
D-20354 Hamburg
E-Mail: imaginarien.der.kraft"AT"uni-hamburg.de
Website: www.imaginarien-der-kraft.uni-hamburg.de
Call for Papers (deutsch) (PDF)
Call for Papers (english) (PDF)