Nachruf Prof. Dr. Klaus Briegleb
11. November 2024, von Webredaktion IfG
Akademischer Nachruf auf Prof. Dr. Klaus Briegleb
Am 13. Oktober 2024 ist Klaus Briegleb im Alter von 92 Jahren verstorben. Von 1972 bis zu seiner Emeritierung im Jahr 1997 lehrte Briegleb Neuere deutsche Literaturgeschichte und Literaturtheorie am Literaturwissenschaftlichen Seminar der Universität Hamburg. Aus Peilau (heute: Piława) in Niederschlesien stammend nahm er nach einer Buchhandelslehre ein Studium an der Universität München auf, wo er 1962 mit einer Arbeit zu Friedrich Schlegel (Ästhetische Sittlichkeit. Versuch über Friedrich Schlegels Systementwurf zur Begründung der Dichtungskritik) promoviert wurde. Die Habilitation folgte 1970 mit einer Arbeit über Gotthold Ephraim Lessing (Lessings Anfänge 1742-1746: Zur Grundlegung kritischer Sprachdemokratie). In dieser Zeit (1968-1976) ist auch Brieglebs viel beachtetes, großes Editionsprojekt entstanden: die im Carl Hanser Verlag erschienene Heinrich-Heine-Ausgabe (Sämtliche Schriften). Diese in mehreren Auflagen erschienene Ausgabe ist bis heute eine der meistgelesenen Editionen von Heines Werken.
An Brieglebs Beschäftigung mit diesen drei Autoren (F. Schlegel, Lessing, Heine) lässt sich schon ablesen, welchen Weg er in seinen späteren philologischen Arbeiten einschlagen sollte: den Pfad der Kritik, der Reflexion und Intervention umfasst. Brieglebs kritische Philologie, die er nicht nur in seinen wissenschaftlichen Publikationen zum Ausdruck gebracht, sondern auch in der Lehre und in der öffentlichen Debatte gelebt hat, war gekennzeichnet durch präzise Analysen und mitunter scharfe Attacken, die auch vor Polemik nicht zurückschreckten. Die gesellschaftliche Dimension des literarischen Diskurses war in seinen Lektüren stets präsent. Er prägte hierfür den sehr treffenden Ausdruck der politischen Philologie, mit dem er sich durch die diskursanalytische Ausprägung des Verfahrens implizit auch von dem Begriff der ideologiekritischen Literaturwissenschaft der Bürger-Schule abgrenzte. Die 1989 erschienene Monographie Unmittelbar zur Epoche des NS-Faschismus. Arbeiten zur politischen Philologie 1978-1988 befasst sich mit der gesellschaftlichen Verortung der Literaturwissenschaft im politischen Milieu eines durch die NS-Vergangenheit bestimmten Nachkriegsdeutschlands. Briegleb sah es als notwendig an, Literatur immer auch in der historisch-gesellschaftlichen Konstellation ihrer Rezeption zu betrachten. Die Kritische Theorie (insbesondere das Werk Walter Benjamins) und die politische Praxis der 68er-Bewegung bilden für Briegleb wichtige Wegmarken seines Denkens und Schreibens. Dabei versteckt sich der Autor Briegleb nie hinter dem Schleier einer namenlosen und pseudo-neutralen Philologie. Das Personalpronomen ich erhält in seinen Schriften durchaus Raum, um die dort formulierte Kritik als Ausdruck des Autor-Subjekts kenntlich zu machen. Diese Praxis zeigt sich auf eindrückliche Weise in dem Band Literatur und Fahndung. 1978 – Ein Jahr Literaturwissenschaft konkret (1979), in der Briegleb die sprachpolitische Lage in Westdeutschland nach dem Deutschen Herbst analysiert und dabei auch das eigene Handeln (Verfassen eines Prozess-Gutachten im Verfahren gegen die beiden angeklagten Verleger von Michael „Bommi“ Baumanns Buch Wie alles anfing, Engagement für den vom Dienst suspendierten Peter Brückner) selbstkritisch in den Blick nimmt. Eine solche Form des radikal-offenen Umgangs mit den eigenen Zweifeln in einer gesellschaftspolitischen Situation der allgemeinen Fahndungshysterie sucht im wissenschaftlichen Betrieb ihresgleichen. Wie sehr Brieglebs Arbeit – dabei im besten Sinne interdisziplinär agierend – auch Impulse für andere Fachrichtungen (Politologie, Soziologie) setzte, zeigt sich im besonderen Maße an seiner 1993 erschienenen Monographie 1968. Literatur in der antiautoritären Bewegung, ein auch heute noch unverzichtbares Werk zur Rekonstruktion der Geschichte der Studentenrevolte. Erstmals werden hier in historisch präziser Weise die „Ursprungslinien der Revolte“, nämlich die situationistische Grundlegung der Praktiken der Studentenproteste, nachgezeichnet. Hier wie auch an anderen Stellen legt Briegleb den Finger in die Wunde der westdeutschen Erinnerungspraxis im literarischen und kulturellen Leben nach 1945. Insbesondere die Institution der Gruppe 47 wird von Briegleb verschiedentlich kritisch ins Visier genommen. Höhepunkt dieser jahrelangen Beschäftigung mit dem sozialen Milieu der Nachkriegsliteraten um Hans Werner Richter stellt hierbei die 2003 erschienene Polemik Mißachtung und Tabu. Eine Streitschrift zur Frage „Wie antisemitisch war die Gruppe 47?“ dar, die sehr kontrovers diskutiert wurde.
Ein Autor, mit dem sich Briegleb Zeit seines Lebens immer wieder intensiv beschäftigt hat, war selbstverständlich Heinrich Heine, dessen Werke er nicht nur im Hinblick auf deren jüdische Schreibweise analysierte (in seiner 1997 erschienenen Monographie Bei den Wassern Babels. Heinrich Heine, jüdischer Schriftsteller in der Moderne), sondern deren Vereinnahmung durch die politische Gedenkkultur des Hamburger Senats er in seiner Rede wider das Hamburger Heine-Denkmal vehement kritisierte (abgedruckt in Opfer Heine? Versuche über Schriftzüge der Revolution, 1986). Briegleb war aber nicht nur kritischer Beobachter des literarischen Diskurses, der seine Einsichten in diversen Publikationen mitteilte, sondern auch ein charismatischer Lehrer und Literaturvermittler. Mit seiner Begeisterung für so unterschiedliche Texte wie Goethes Faust und die Flugblätter der Kommune I vermochte er etwas zu vermitteln, was im universitären Betrieb nur selten gelebt wird: die Lust am Text! In seinen Seminaren, die oftmals durch eine offene Diskussion über die Verfahrensweisen der Lehrveranstaltung begannen, spürte man seine Freude an den Texten, die ihm zwar zumeist wohlvertraut waren, von denen er sich aber oftmals von neuem überraschen ließ. Der Heinesche Witz war auch in seiner Lehre präsent, und das Lachen in diesem Kontext keineswegs verpönt. Dabei waren seine Seminare und Vorlesungen immer auch von einem hohen theoretischen Anspruch geprägt: Französische Theoretiker wie Julia Kristeva oder Jean-François Lyotard wurden ebenso gelesen und diskutiert wie die Klassiker der Kritischen Theorie. Das theoretische Denken wurde dabei nie losgelöst von den politischen Kontexten und Diskursen betrachtet.
Einen wichtigen Teil seines kritischen Denkens und seiner politischen Philologie bildete der Umgang mit dem NS-Gedächtnis in der deutschsprachigen Literatur, insbesondere im Hinblick auf das Verhältnis von Deutschen und Juden im Kulturbetrieb der Bundesrepublik Deutschland, das er in Anlehnung an Dan Diner als negative Symbiose beschrieben hat. Seine genauen Reflexionen über die Mechanismen der Verdrängung in der deutschen Erinnerungskultur werden in der gegenwärtigen Debatte über den Antisemitismus in Deutschland schmerzlich vermisst. Vermissen werden wir aber vor allen Dingen den Menschen Klaus Briegleb, der nie hinter der Charaktermaske des Literatur-Professors verschwand, sondern als Lesender und Schreibender uns mit Heine und anderen Autoren den Blick auf die Wunde der Literatur gelehrt hat.
„Der Posten ist vakant! – Die Wunden klaffen –
Der eine fällt, die andern rücken nach –
Doch fall ich unbesiegt, und meine Waffen
Sind nicht gebrochen – Nur mein Herze brach.“
(Heinrich Heine, Romanzero. Zweites Buch: Lamentationen)
Peter Brandes
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