Märchen
Märchen von Ludwig Bechstein
© Anmerkungen: 2002 by Prof. Dr. Susanne Schmidt-Knaebel
Thüringische Volksmährchen
Anmerkungen
„Das Märchen ist Gedanken-, Traumdichtung, hervorgegangen aus uralten ernsten Vorstellungen über die wichtigsten Fragen, mit der, je weniger sich ihre Wahrheit aufrecht erhalten liess, sich umsomehr die Hoffnungen und Wünsche des Volkes verbanden.“ Wasserfall (1926) S. 265.
Die Sammlung Thüringische Volksmährchen (ThürVM) ist die früheste Anthologie von Erzählungen in Bechsteins Werk. Es handelt sich – entgegen der Formulierung des Titels – nicht um Volksmärchen, jedoch auch nicht, wie vielfach zu lesen ist, um Kunstmärchen, sondern um „novellistisch ausgesponnene Sagen“ (Wasserfall S. 78). Der stilistische Einfluss von J.K.A. Musäus ist in diesem Frühwerk unverkennbar; dessen Sammlung Volksmärchen der Deutschen (1782–1786) war das wichtigste literarische Vorbild des jungen Erzählers Bechstein. Die Auseinandersetzung mit Musäus sollte den Meininger Autor über eine lange Phase z.T. hochkritischer Abgrenzung bis zu einer distanzierten Anerkennung für das erzählerische Werk seines Vorbilds weiterführen. Als ausführlichste Äußerung sei hier der Artikel aus Zweihundert deutsche Männer in Bildnissen und Lebensbeschreibungen (Leipzig 1854) zitiert; einleitend heißt es da: „Musäus war eine gemüthliche (= warmherzige, das Gemüt ansprechende, sk) Dichternatur, voll Humor und Laune, voll Witz und Liebenswürdigkeit, selbst Satyriker – aber ohne zu verwunden, und wurde der Liebling vieler, obschon er nur als bescheidener Stern neben den Sternen erster Größe an Weimars Poetenhimmel glänzte“ (s.v. Musäus, Sp. 1). Insofern sagt Bechstein in diesem Zusammenhang auch etwas darüber aus, wie er am Ende seiner mittleren Schaffensperiode die Arbeit an den eigenen Thüringischen Volksmährchen versteht:
„Ungleich bedeutsamer (als in seiner Lavater-Persiflage, sk) trat einige Zeit darauf Musäus mit seinen ,Volksmärchen der Deutschen' hervor, durch die er einer in Deutschland fast noch neuen Novellenform Bahn brach, welche häufigste Nachahmung fand, letztere durch den Beifall geweckt, der der ersteren zu Theil ward. Es mußten Jahrzehnte, ja ein halbes Jahrhundert vergehen, ehe viele sich von der Idee loszureißen vermochten, Musäus habe wirklich Volks-Märchen erzählt. Er nahm einen Märchen- oder Sagenstoff, den er sich wohl von alten Weibern oder Soldaten mittheilen ließ, schmückte ihn mit Phantasie und Laune, spann ihn ins Weite und Breite, und das gefiel, das galt dem Geschmack der meisten Zeitgenossen wirklich für Märe und Sage; ja er nahm auch das Wort Legende dazu und gebrauchte dieß im allerfalschesten Sinne, verwirrte damit die Begriffe und regte das Heer der Nachahmer an, es ihm nachzuthun. Alle diese Mißgriffe benehmen aber keineswegs den Dichtungen des jovialen Mannes ihren Werth, letztere behalten immerhin ihre Geltung, und es würde gewagt sein, ihnen ihre Berechtigung abzusprechen. Musäus weckte doch den Sinn für die Volkspoesie, für Mär' und Sage wieder in der Lesewelt, und das ist kein geringes Verdienst.“ (ebd., Sp. 3)
Auf der Grundlage seines fortgesetzten Bemühens um eine schärfere Definition der Einfachen Textsorten grenzt er am Schluss des Artikels die eigenen Vorstellungen noch einmal von denen des Vorläufers ab:
„Dieselben (die Volksmärchen von Musäus, sk) werden als Unterhaltungsbuch stets noch ein Publikum finden, nur muß man […] sie nicht für eine Sagen- und Märchenquellenschrift nehmen, und sonach widerlegt sich von selbst der irgendwo zu lesende Vorwurf einseitiger Kritik, daß Musäus zu den Schriftstellern gehört habe, die nur für ihr Jahrzehent arbeiten, wenn auch seine Schreibweise nicht mehr so anspricht, wie früher, da Anschauungen, Verhältnisse, Geistesbildung und Geistesrichtung auf andere Stufen getreten sind, als zu seiner noch gemüthlichen und völlig harmlosen Zeit.“ (ebd. Sp. 4, Hervorhebung im Original)
Der kleine Bestand der Thüringischen (Volks-)Sagen in: Thuringia 1841 Nr. 11-24 enthält einen Text, der im Unterschied zu der hier vorliegenden Anthologie als Kunstmärchen bezeichnet werden kann. Er ist auf zwei Nummern verteilt (ThürVS Nr. 3.10: Von den uneinigen Brüdern und Nr. 3.11: Nerinens Entzauberung) und trägt alle formalen und inhaltlichen Kennzeichen der Textsorte (alliterierende Eigennamen, die Motive von der verzauberten Gestalt und der unbekannten hohen Abstammung, eine Liebesgeschichte mit günstigem Ausgang usw.), ist jedoch deutlich kürzer als die Texte der Sammlung ThürVM. Es gibt zu den Thüringischen Volksmährchen Kommentare in Scherf, Walter (Hg.): Ludwig Bechstein, Sämtliche Märchen. Einbändig o.J. im Winkler Verlag München, zweibändig im Deutschen Taschenbuch-Verlag 1988.
Inhaltsangabe zu ThürVM 1: „Selinde“
Nach einleitender Anrede des Lesers, einer Beschreibung der Örtlichkeit und der Angabe der Erzählquelle sowie ausführlicher Erwähnung des Musäus-Textes Melechsala wird vom Ritter Alfred von Tannenwörth berichtet, der seine dunkle Burg in einer wilden Gegend der Insel Rügen verlässt. Mit seinem treuen Schildknappen Siegismar landet der junge Mann an Preußens Küste. Auf seinem erfolgreichen Weg von Turnier zu Turnier kommt er gerade in dem Augenblick nach Thüringen, als der Graf Ernst von Gleichen zum Fest seiner zweiten ehelichen Verbindung – mit der schönen Sarazenin, der Jungfrau mit dem Zopf – eingeladen hat. Herr und Diener werden freundlich in die Burg auf dem Gleichenberg eingelassen und bestens bewirtet, und jeder von ihnen knüpft erste Bekanntschaften. Für die Übernachtung führt sie Kurt, der Diener des Grafen, abends auf das Schloss Mühlberg.
Während die Gäste auf den Beginn der offiziellen Festlichkeiten warten, treibt eine unerklärliche Unruhe, ein ihm noch unbekanntes Gefühl, den Ritter Tannenwörth hinaus in die Natur. So durchstreift er ohne seinen Diener die Feldmark und die Eichenwälder um die Burg Gleichen und kommt bei einem dieser einsamen Ritte eines Abends an die verwunschene Quelle, die die Menschen dieser Gegend den Spring nennen. Dort begegnet er einer von magischen Melodien umtönten Jungfrau und verliebt sich sofort. Die geheimnisvolle Schöne verspricht ihm, ihren Namen preiszugeben, wenn er gegen jedermann von seiner Begegnung zu schweigen vermag. In sich gekehrt reitet er zur Gesellschaft zurück, bleibt aber für sich und genießt die Schönheit der Mondnacht vom Fenster seines Zimmers. Sein Diener jedoch bemerkt die Veränderung an ihm und erkennt, dass sein Herr verliebt ist. So bedrängt er ihn am andern Morgen mit allerlei Fragen. Alfred gibt nur ausweichende Antworten und reitet wieder ohne Begleitung davon. Am Nachmittag dieses Tages aber sitzt Siegismar auf dem Turm des Schlosses, schaut seinem Herrn nach und sieht ihn auf die Gegend des Spring zujagen. Als dem dort ungeduldig Harrenden die Nymphe erscheint, gibt sie sich als Selinde, Herrscherin über die Quelle und die sie umgebende Natur, zu erkennen. Ihre Rede und die himmlischen Töne ihrer Laute lassen den Ritter jetzt in heißer Liebe erglühen, und das ungleiche Paar versinkt im Rausch seiner Küsse. Als der Augenblick der Trennung gekommen ist, warnt die Quellkönigin den Geliebten davor, ihr seinen Treueschwur zu brechen. Sie schenkt ihm ihren Zauberring und verlangt, dass er sie niemals länger als bis Mitternacht warten lässt.
Als Alfred an diesem Abend auf Schloss Mühlberg einreitet, fällt sein Diener ihm zu Füssen und bittet ihn, von seiner gefährlichen Liebe zu lassen. Er beichtet, dass er ihm heimlich gefolgt ist und ihn und Selinde belauscht hat. Der einfache Mann hat die Quellfrau als hässlich und unaufrichtig erlebt und fürchtet um das Leben seines Herrn. Alfred rückt innerlich von seinem Erlebnis ab, es kommt ihm jetzt vor wie ein trügerischer Traum. Gerade in diesem Moment laden die Herolde des Grafen für den kommenden Tag zu einem Lanzenstechen auf die Burg Gleichen, mit dem die Hochzeitsfeierlichkeiten eröffnet werden sollen. Nach einigem Zögern beschließt Alfred, an den Wettkämpfen teilzunehmen, die errungenen Preise will er der Geliebten zu Füssen legen.
Tatsächlich kämpft er am folgenden Tage in Selindes Namen so erfolgreich, dass die bräutlich geschmückte Sultanstochter ihm einen der Siegerpreise überreicht. Alsbald tafelt er im Kreise der herrschaftlichen Gäste. Nach einem größeren Erzählereinschub erfährt der Leser, dass der Ritter Tannenwörth sich an der reich geschmückten Tafel angelegentlich mit einer fremden Schönen unterhält; sie trägt ein lichtblaues Kleid und hat einen Kranz aus Wasserrosen im Haar. In dem Augenblick jedoch, da er sie nach ihrem Namen fragen will, durchfährt ein schneidender Schmerz den Finger, an dem er Selindes Ring trägt. Er stürzt hinaus, ruft nach seinem Pferd und sprengt ohne Waffen und Sattel von dannen. Sein Pferd bricht unter ihm zusammen, als er bereits von Ferne einen weißen Schatten sich am Quellbrunnen bewegen sieht. Schon will die Hoffnung aufkeimen, dass er die Geliebte wiedersehen kann, da tönen die Schläge der Mitternachtsstunde vom Turm. Das leuchtende Bild der Nixe versinkt vor seinen Augen im Wasser, auf sein Rufen tönt nur ihre Stimme jammernd aus der Tiefe. Als er ihr den Ring nachwirft, wandelt sich das Klagen in einen süßen Gesang.
Auf dem Schloss hat man ihn vermisst, und auch seine schöne Tänzerin ist spurlos verschwunden. Siegismar hat zwar endlich berichtet, was er von des Ritters Verstrickungen weiß, doch niemand glaubt ihm. Da eilt der treue Diener selbst seinem Herrn nach. Er findet zu seiner Freude den schlafenden Ritter am Rande der Quelle. Der schickt ihn nach Mühlberg zurück und reitet selbst noch einmal zur Burg Gleichen hinauf, um sich von seinen Gastgebern schicklich zu verabschieden. Sehr früh am nächsten Morgen sind Herr und Diener wieder vereint und auf dem Wege zu einem neuen Abenteuer. Abschließend kündigt der Erzähler eine Fortsetzung der Geschichte an und betont, dass Alfred von Tannenwörth den Verlust dieser großen Liebe später verwand. Die den Text abschließende Strophe jedoch berichtet von Selindes nie endender Klage.
Inhaltsangabe zu ThürVM 2: „Harald von Eichen. Eine Skizze aus der 2ten Hälfte des 12ten Jahrhunderts“
Im Rittersaal des Schlosses Wartburg schlägt Ludwig der Zweite den jungen Harald von Eichen zum Ritter und mahnt ihn, auf seine Ehre zu halten und verfolgte Unschuld zu beschirmen. Von der Empore schaut das schöne Hoffräulein Adelgundis von Eschilbach mit Wohlgefallen auf den Gast. Der schaut bewundernd zurück und bedauert, dass diese Rose unter den Damen des Hofes so schnell verschwindet. Zwei Ritter sieht er miteinander tuscheln, aber kann sie nicht fragen, ob sie über ihn sprechen, denn schon führt ihn der Landgraf am Arm aus dem Saal. Die beiden Ritter, Eppo von Heineck und Hugo von Brandenfels, machen sich derweil über die vermeintliche Unerfahrenheit des neuen Kollegen lustig, was Hugo nicht hindert, den verliebten Eppo mit dem möglichen Nebenbuhler zu necken. Tatsächlich schäumt der vor Eifersucht bei dem Gedanken, Harald könnte sich Adelgundis nähern. Doch finden die beiden zwielichtigen Gestalten in ihrem Haß auf den Landesherrn und mit der Verachtung, die sie für von Eichen empfinden, schnell wieder zueinander.
Als bald darauf zum Tanz aufgespielt wird, bietet Harald schüchtern der ebenfalls errötenden Adelgundis den Arm, und Eppo und Hugo können sich nur vielsagend anschauen. Hugo warnt den Freund vor dieser aufkeimenden Liebe, und Eppo zieht ihn den beiden jungen Menschen nach in den Tanzsaal. Eppo gelingt es schließlich, Adelgundis für einen Tanz zu gewinnen, doch da er sie mit aufdringlichen Fragen grob beleidigt, lässt die Angebetete ihn wütend auf der Tanzfläche stehen. Harald geht ihr nach und als er sie weinend findet, bietet er ihr seinen Schutz an und führt die um Fassung Ringende in den Saal zurück. Eppo ärgert sich furchtbar, die beiden tanzen zu sehen. Harald berichtet auf Adelgundis' Frage, dass er fortan als erster von Ludwigs Dienern auf der Wartburg leben wird, und wagt es, an einem vor neugierigen Blicken sicheren Platz der Angebeteten seine Liebe zu gestehen. Doch die überraschte Schöne vertröstet ihn: Am Tag der von Ludwig angekündigten Jagd will sie ihm ihre Antwort geben. Eppo und Hugo reiten mürrisch von den Festlichkeiten heim, sie wissen sich mit anderen Vasallen darin einig, dass es wenig Ehre und Freude bringt, dem weibischen und unkriegerischen Ludwig zu dienen. Seiner Einladung zur Jagd wollen sie aber dennoch folgen, und wäre es, um Adelgundis' Begegnung mit Eichen zu stören.
Hörnerklang signalisiert den Beginn des Jagdtages, und der Landgraf im schlichten Habit führt seine Gesellschaft in die Wälder um den Thüringischen Inselberg. Eppo und sein Freund vergnügen sich auf ihre Art mit hämischen Kommentaren, Haralds Augen blitzen froh, denn Adelgundis hat ihm etwas zugeflüstert. Während sich die weniger Jagdbegeisterten bereits im Schloß Tenneberg bei Waltershausen zum Schmaus zusammenfinden, folgt Ludwig bei sinkender Sonne, nur von seinem Knappen begleitet, einem feisten Hirsch. Der junge Diener kann schließlich nicht mehr Schritt halten, verliert seinen Herrn und findet im sinkenden Licht sein totes Roß. Er alarmiert die Gäste auf Tenneberg, und die wenigen Getreuen machen sich mit Fackeln auf den Weg, den vermissten Landgrafen zu suchen. In der allgemeinen Aufregung bemerkt niemand, dass auch Harald und Adelgundis noch nicht im Schloß eingetroffen sind.
Spät in der Nacht noch arbeitet der Schmiedemeister Näbeling in Ruhla an seiner funkensprühenden Esse, als ein Mann in Jagdkleidern eintritt und ihn um Abendbrot und ein Nachtlager bittet. Während der späte Gast, der sich als Bedienter des Grafen ausgegeben hat, sich die einfache Kost schmecken lässt, weiß der Schmied wenig Schmeichelhaftes über den „barmherzigen“ Landesherrn zu sagen. Wieder und wieder lässt er seinen Hammer auf das rotglühende Eisen niedersausen und stößt keuchend die Worte hervor: „Landgraf, werde hart! werde hart!“ Auf die bestürzte Nachfrage Ludwigs – denn er ist es, den sein Jagdeifer in diese Schmiede verschlug – erfährt er schreckliche Dinge über seine Ritter, die ohne sein Wissen ungerecht und grausam mit seinen Untertanen umspringen und blutige Entscheidungen hinter seinem Rücken treffen. Als der Morgen graut, verlässt Ludwig nachdenklich die Herberge.
Auf dem Gipfel des Inselberges warten Harald und Adelgundis frohen Herzens auf den Sonnenaufgang. Eichen hat der Geliebten seinen Samtmantel gegen die Morgenkühle umgelegt, und im ruhigen Gespräch werden die Beiden sich einig, dass Harald beim Landgrafen um Adelgundis' Hand anhalten soll. Als die Sonne über Thüringens Bergen aufgeht, schwören sie sich ewige Liebe. Auf getrennten Wegen reiten die Liebenden nach Tenneberg zu.
Harald trifft bald darauf zwei Freunde, die den Landgrafen suchen. Erschrocken spornt er sein Roß, als er vom Verschwinden seines Herrn erfährt. Ottokar und Albert schauen ihm respektvoll nach; auch sie wissen, dass Ludwig mehr solcher getreuen Untertanten brauchen könnte. Sorgenvoll sprechen sie den Wunsch aus, dass der fromme Graf auch ein gerechter Richter werden möge. Dann hören sie von ferne frohen Gesang und wissen, dass der Landgraf gefunden wurde.
In voller Rüstung sitzt Ludwig vor der versammelten Ritterschaft und hält Gericht über die Übeltäter, die der Schmied ihm benannt hat. Robert von Brandenburg kann die Verantwortung noch auf seinen Burgvogt abschieben, aber Hugo von Brandenfels und Eppo von Heineck trifft der uneingeschränkte Bann der landgräflichen Gerechtigkeit. Die von Ludwig gegen die ungetreuen Untertanen verhängten Strafen werden umgehend vollzogen, und der Graf reist nach Neuenburg ab, wo Jutta, seine kluge Gemahlin, ihm einen Sohn geboren hat. In einer ausführlichen Erzählung berichtet er der Frau von dem elternlosen Harald, den er mit dem Ritterschlag belohnen wollte für eine mutige Tat, mit der der treu Ergebene sein Leben gerettet hat. So wie Harald das eigene Leben aufs Spiel setzte, um seinem Herrn im Kampf mit einem riesigen Eber beizustehen, so will Ludwig ihn mit den eingezogenen Gütern des grausamen Eppo ausstatten und wie ein Vater mit der schönen Adelgunde verbinden. Jutta stimmt mit leuchtenden Augen zu. Doch kaum hat sie Adelgundis zu sich gerufen und um ihre Wünsche befragt, da kommt Nachricht von Harald, dass die bestraften Vasallen einen Aufstand gegen Ludwig planen, und nur Minuten später verlässt der letzte von Ludwigs gewappneten Mannen die Burg.
Auf dem Wege zur Wartburg bringt ein Bote die Nachricht, dass ein bewaffneter Haufe dem Landgraf entgegenrücke, um ihn daran zu hindern, seiner Burg zu Hilfe zu kommen. Notgedrungen lässt Ludwig ein Lager aufschlagen und entgeht in der folgenden unruhigen Nacht einem feigen Mordanschlag nur dadurch, dass er heimlich unter seinen Kleidern einen eisernen Panzer trägt. Am andern Morgen führt der, den sein Volk fortan Ludwig den Eisernen nennen wird, seine Scharen gegen den Trupp von Lumpengesindel, mit dem der Brandenburger und Hugo von Brandenfels ihm entgegenziehen. Nach kurzem, heißem Kampf ist der aufrührerische Haufe schon fast aufgerieben, da sprengen Harald von Eichen und Ludwigs jüngerer Bruder von entgegengesetzten Seiten mit ihren Rittern heran und machen dem ungleichen Kampf ein schnelles Ende. Kaum sind die überlebenden Gefolgsleute der aufrührerischen Ritter Brandenburg und Brandenfels mit Stricken gebunden, da sprengt ein weißes Rößlein heran, und Harald und Adelgunde fallen sich in die Arme.
Streng geht Ludwig mit den ungetreuen Untertanen ins Gericht. Er lässt sie gefesselt an einen Acker führen, wo sie ihn in Vierergruppen mit einem Pflug über Thüringens Erde führen müssen. Dieses vom Landgrafen gepflügte Feld, das heute noch bei Naumburg unter dem Namen „Edelacker“ gefunden werden kann, wird anschließend zum Zufluchtsort für flüchtige Verbrecher erklärt. Vor der Landgräfin aber knien am Abend dieses Tages Harald und Adelgundis im hochzeitlichen Feststaat. Harald empfängt zusammen mit Juttas Dank ihre schwere goldene Kette, deren Anhänger auf einer Seite das Bild des Landgrafen, und auf der andern das Porträt der Braut zeigt. Im Licht der scheidenden Sonne verlässt das junge Paar den Saal, um vor den Altar des Herrn zu treten.
Inhaltsangabe zu ThürVM 3: „Die Böhlershöhle. Volksmährchen“
In der Mitte des 16. Jh. lebt in Arnstadt der Schuhmachermeister Jonas. Er hat sich nach dem frühen Tod seiner Eltern sein Glück hart erarbeiten müssen. Nach den Wanderjahren als Geselle, die ihn nach Nürnberg, Augsburg und Frankfurt geführt haben, ist er in seine Heimatstadt zurückgekehrt und hat die tugendsame, aber wenig bemittelte Jungfrau Elise Barbara geheiratet. So müssen die jungen Leute beide hart arbeiten, um das Häuschen und die neu eingerichtete Werkstatt zu bezahlen, aber sie sind glücklich, besonders, als ihnen der erste Sohn geboren ist. Friedlich und freundlich geht auch das nächste Jahr ihres gemeinsamen Hausstands vorüber, in dem ihnen eine kleine Tochter geschenkt wird. Doch dann breitet sich unter den Kindern der Stadt ein bösartiges Fieber aus, das auch die beiden Kleinen des Meisters Jonas innerhalb weniger Wochen hinwegrafft. Die armen Eltern sind wie gelähmt.
Eines Abends, als der Sturm um ihr Häuschen wütet und Lieschen vom Kummer und des Tages Arbeit übermüdet eingeschlafen ist, liest Jonas für sich aus der alten Hausbibel den 90sten Psalm. Plötzlich erschallt der Ruf „Feuer!“, und als er den Fensterladen öffnet, schlägt ihm bereits die Lohe vom Brand der Nachbarhäuser in die Stube. Lieschen und Jonas retten mit Hilfe von Freunden ihre schmale Habe und ihr Leben, ihr Haus jedoch brennt bald lichterloh, so dass sie Zuflucht bei einem Vetter suchen müssen. Dieser, ein Leineweber namens Jost, ist bereits Witwer und verliebt sich alsbald in die junge Frau. Er stellt ihr nach, es kommt zu Tätlichkeiten, und der handgreiflich Zurückgewiesene schwört Rache. So lässt er das Gerücht ausstreuen, Elise habe ihm eine gewisse Gunst erwiesen, und seine Rechnung geht auf. Als Jonas von der Geschichte erfährt, bricht für ihn eine Welt zusammen. Zwar hat er einen vielsagenden Traum, in dem eine Schlange nach Lieschens Herzen sticht, aber er beachtet ihn nicht weiter. Am nächsten Morgen kündigt Jost den jungen Leuten unter fadenscheinigen Vorwänden das Quartier.
Meister Jonas ist am Ende seiner Kräfte, als er an einem schönen Tag in eines der Täler um Arnstadt hineinwandert. Plötzlich findet er sich auf einem hohen Felsen, und als der Versucher zweimal an ihn herantritt und ihn überreden will, seinem Leben ein Ende zu machen, hat er ihm schließlich nichts mehr entgegenzusetzen. Er will sich in den gähnenden Abgrund stürzen, da greift ihn eine mächtige Hand und hält ihn zurück. Hinter ihm steht ein seltsames Männchen, das sich als Hügelpatsch vorstellt und den Verwirrten an eine Höhle und durch eine enge Felsspalte in den Palast des Zwergenkönigs Bohelier führt. Dort erweist sich, dass für Hügelpatsch ein Platz neben dem König freigelassen ist, denn er ist der erste Minister des Reiches. Nachdem die 24 Harfner das Zwergenlied gesungen haben, erzählt Hügelpatsch der versammelten Zwergengesellschaft die schmerzliche Lebensgeschichte des Meister Jonas. Der König weist seinen Schatzmeister an, Jonas reichliche Schätze zuzustecken, dann gibt er seinem neuen Menschenfreund wichtige Ratschläge. So erfährt Jonas, dass Lieschen ihm treu geblieben ist. Unter der Bedingung, dass er niemandem von seinem Besuch in Boheliers Reich erzählt, darf er sich von dessen Land ein Feld abstecken, das immer fruchtbar sein wird. Schließlich bekommt er den Trinkbecher des Zwergenkönigs und einen Ring der Königin Orselia geschenkt und wird in tiefen Schlaf versetzt.
Er erwacht am Fuß des Felsens, von dem er sich hatte hinabstürzen wollen. Froh geht er nach Hause, bezahlt dem Vetter die rückständige Miete und nimmt sich mit Lieschen eine schöne Wohnung. Besonders Jost möchte wissen, woher dem Schuhmacher der neue Reichtum kommt. Er liegt ihm in den Ohren, bis der einen Teil der geheimen Geschichte preisgibt. Schon ist der Leineweber auf dem Weg zum Felsen, doch ihn erwarten viele häßliche Gnomen, die nicht gerade zimperlich mit ihm umspringen. Vor dem versammelten Zwergenvolk will Bohelier ihn für seine Gemeinheiten zum Tode verurteilen, da eilt Jonas herbei und bittet um des Vetters Leben. Da ist der ganze kleine Hofstaat plötzlich verschwunden, und Jost fällt Jonas aus Dankbarkeit zu Füssen.
Jonas und Lieschen leben fortan in ungestörtem Glück. Das Zauberfeld ist immer fertig bestellt, und einmal ruft Lieschen auch die Spenderin ihres Zauberringes, dass sie ihr in Kindsnöten beistehe. Jonas wird in Ehren alt und stirbt mit über achtzig Jahren. Noch mancher hat – leider vergebens – sein Glück im stillen Jonastal oder an dem Felsen gesucht, der noch heute der Königsstuhl genannt wird. Die Höhle dort heißt nach dem Zwergenkönig: Böhlershöhle. Aber von den Zwergen wurde nie wieder einer gesehen, so dass man sich fragen kann, ob sie überhaupt noch dort wohnen.
Inhaltsangabe zu ThürVM 4: „Der Riesenlöffel. Ein Volksmährchen“
In grauer Vorzeit schreitet der Riese Atahulf in düsterer Stimmung durch den verschneiten Wald des Nordlandes. Er hat Frau und Tochter verlassen, weil ein böser Traum ihm verkündet hat, dass die Asen den Untergang seines Hauses beschlossen haben. Schon meint er, sich im dichten Gestrüpp verirrt zu haben, da weist ihm ein rotes Licht den Weg zu einer Höhle, in der ein Feuer lodert. Hier lagert Swinda, die Hünenjungfrau, und sie gewährt dem Wanderer Obdach. Hoch aufgerichtet sitzt sie am Feuer, von derselben riesenhaften Größe wie Atahulf, eine Krone auf dem langen blonden Haar. Sie rührt mit einem steinernen Riesenlöffel in einem Kessel, in dem sie Atahulf nacheinander drei prophetische Bilder zeigt: einen zerschmetterten Jüngling, ein hohes Schloss, das in sich zusammenfällt und einen wildbewegten See, in dem eine zarte Frau um ihr Leben kämpft. Nachdem sie ihm mit einem seherischen Spruch den Löffel geschenkt hat, lässt sie ihn von ihrem zwergenhaften Diener Unkoo nach Hause geleiten. Dieser beschwerliche Rückweg kommt dem Riesen so lang und unheimlich vor, dass er sich einen Augenblick vergisst und mit dem Löffel seinen feueräugigen Führer bedroht.
Ingomar, der götterschöne Sohn des Riesen Frotho, liebt Egil, Atahulfs liebliche Tochter, aber die Väter sind schon lange verfeindet. Wenn Egil im Schatten der heiligen Eichen sitzt und sich in einer klaren Quelle spiegelt, wagt Ingomar ihr nur von weitem zuzusehen. Doch eines Tages sieht die junge Frau einen hochgewachsenen blonden Jüngling auf sich zukommen und verliebt sich in den Fremden, der ihr seinerseits seine Liebe gesteht. Immer öfter treffen sie sich nun an der Quelle und besprechen, wie sie den feindseligen Sinn ihrer Väter mildern könnten. Eines Tages, als Ingomar die Geliebte bis an den Fuß des Burgberges begleitet hat, trifft ihn ein Felsbrocken, der aus der Höhe niedersaust, und er fällt zerschmettert zu Egils Füssen hin. Der zürnende Atahulf aber zieht seine Tochter hinter die Mauern seines Palastes zurück.
Als Frotho den Sohn in seinem Blut findet, schwört er furchtbare Rache. Er überfällt Atahulf in seiner schimmernden Burg, als der beim friedlichen Schmaus mit der Familie gerade den Riesenlöffel zum Munde führt. Den hebt er sogleich als Waffe gegen den Eindringling, aber aus dessen Schild glühen ihm die roten Augen von Swindas gespenstigem Diener entgegen. Da flieht Atahulf und wappnet sich, aber Frotho hebt nur den Löffel auf und schleudert ihn gegen den Hausherrn, dass der tot niederfällt und die Erde seines Hausbergs mit seinem Blut rot färbt. In rasendem Zorn tötet Frotho auch die Hausfrau, zerstört die Burg des Widersachers bis auf die Grundfesten und reißt die zitternde Egil mit sich. Auf der Stelle, an der sein Sohn fiel, rammt er den Steinlöffel in die Erde und kehrt auf sein Schloss zurück, von wo er die hilflose Egil in die Tiefe schleudert, dass sie in dem kleinen See am Fuß des Schlossbergs ertrinkt. Nachdem er Ingomar begraben hat, stirbt er bald darauf vor Gram.
Freya aber, die Göttin der Liebe, führt Egil und Ingomar im Reich des Lichts wieder zusammen, wo sie sich für immer nahe sein werden. Swinda, die eine Schwester des dunklen Frotho und ihm bei der Vernichtung seines Nachbarn Atahulf behilflich gewesen ist, sieht nach diesen Vorfällen den Untergang des Riesengeschlecht voraus, versenkt ihren Zauberkessel in der heiligen Quelle und und schließt sich in ihrer Höhle ein. Niemand hat sie je wiedergesehen, aber die Orte, an denen sich das furchtbare Geschehen vollzog, sind der Sage bis heute bekannt: An der Quelle, die der Kesselbrunen genannt wird, steht der hohe Stein, mit dem Namen Riesenlöffel. Nordwestlich von Arnstadt, in der Richtung nach Gotha zu, finden sich auch der Kalgberg und der Arnsberg einander gegenüberliegend, und am Fuß des letzteren der kleine See, den die Leute den Egilsee nennen.
Aus dem Deutschen Märchenbuch (1845)
Bechsteins 86 Märchen sind, anders als die der Grimms, keine Volksmärchen, sondern werden nach Max Lüthi als Buchmärchen bezeichnet, da sie die tradierten (vielfach aus der Grimm-Sammlung übernommenen) Stoffe teilweise mit der Freude am Sprachspiel, teilweise mit dichterischem Ehrgeiz ausschmücken. Dennoch bleiben sie kürzer und einfacher als das so genannte Kunstmärchen.
DMB Nr. 7: „Der Schmied von Jüterborgk“
Im Städtlein Jüterbogk hat einmal ein Schmied gelebt, von dem erzählen sich Kinder und Alte ein wundersames Märlein. Es war dieser Schmied erst ein junger Bursche, der einen sehr strengen Vater hatte, aber treulich Gottes Gebote hielt. Er that große Reisen und erlebte viele Abenteuer, dabei war er in seiner Kunst über alle Maßen geschickt und tüchtig. Er hatte eine Stahltinktur, die jeden Harnisch und Panzer undurchdringlich machte, welcher damit bestrichen wurde, und gesellte sich dem Heere Kaiser Friedrichs II. zu, wo er kaiserlicher Rüstmeister wurde und den Kriegszug nach Mailand und Apulien mitmachte. Dort eroberte er den Heer- und Bannerwagen der Stadt und kehrte endlich, nachdem der Kaiser gestorben war, mit vielem Reichthum in seine Heimath zurück. Er sah gute Tage, dann wieder böse, und wurde über hundert Jahre alt. Einst saß er in seinem Garten unter einem alten Birnbaum, da kam ein graues Männlein auf einem Esel geritten, das sich schon mehrmals als des Schmiedes Schutzgeist bewiesen hatte. Dieses Männchen herbergte bei dem Schmied und ließ den Esel beschlagen, was jener gern that, ohne Lohn zu heischen. Darauf sagte das Männlein zu Peter, er solle drei Wünsche thun, aber dabei das Beste nicht vergessen. Da wünschte der Schmied, weil die Diebe ihm oft die Birnen gestohlen, es solle Keiner, der auf den Birnbaum gestiegen, ohne seinen Willen wieder herunter können – und weil er auch in der Stube öfters bestohlen worden war, so wünschte er, es solle Niemand ohne seine Erlaubniß in die Stube kommen können, es wäre denn durch das Schlüsselloch. Bei jedem dieser thörichten Wünsche warnte das Männlein: „Vergiß das Beste nicht!“ und da that der Schmied den dritten Wunsch, sagend: „Das Beste ist ein guter Schnaps, so wünsche ich, daß diese Pulle niemals leer werde!“ – „Deine Wünsche sind gewährt“, sprach das Männchen, strich noch über einige Stangen Eisen, die in der Schmiede lagen, mit der Hand, setzte sich auf seinen Esel und ritt von dannen. Das Eisen war in blankes Silber verwandelt. Der vorher arm gewordene Schmied war wieder reich und lebte fort und fort bei gutem Wohlsein, denn die nie versiegenden Magentropfen in der Pulle waren, ohne daß er es wußte, ein Lebenselixir. Endlich klopfte der Tod an, der ihn so lange vergessen zu haben schien; der Schmied war scheinbar auch gern bereitwillig, mit ihm zu gehen, und bat nur, ihm eine kleines Labsal zu vergönnen und ein paar Birnen von dem Baum zu holen, den er nicht selbst mehr besteigen könne aus großer Altersschwäche. Der Tod stieg auf den Baum, und der Schmied sprach: „Bleib droben!“ denn er hatte Lust, noch länger zu leben. Der Tod fraß alle Birnen vom Baum, dann gingen seine Fasten an, und vor Hunger verzehrte er sich selbst mit Haut und Haar, daher er jetzt nur noch so ein scheußlich dürres Gerippe ist. Auf Erden aber starb Niemand mehr, weder Mensch noch Thier, darüber entstand viel Unheil, und endlich ging der Schmied hin zu dem klappernden Tod und akkordirte mit ihm, daß er ihn fürder in Ruhe lasse, dann ließ er ihn los. Wüthend floh der Tod von dannen und begann nun auf Erden aufzuräumen. Da er sich an dem Schmied nicht rächen konnte, so hetzte er ihm den Teufel auf den Hals, daß dieser ihn hole. Dieser machte sich flugs auf den Weg, aber der pfiffige Schmied roch den Schwefel voraus, schloß seine Thüre zu, hielt mit den Gesellen einen ledernen Sack an das Schlüsselloch, und wie Herr Urian hindurch fuhr, da er nicht anders in die Schmiede konnte, wurde der Sack zugebunden, zum Ambos getragen, und nun ganz unbarmherziglich mit den schwersten Hämmern auf den Teufel losgepocht, daß ihm Hören und Sehen verging, er ganz mürbe wurde und das Wiederkommen auf immer verschwur. Nun lebte der Schmied noch gar lange Zeit in Ruhe, bis er, wie alle Freunde und Bekannte ihm gestorben waren, des Erdenlebens satt und müde wurde. Machte sich deshalb auf den Weg und ging nach dem Himmel, wo er bescheidentlich am Thore anklopfte. Da schaute der heilige Petrus herfür, und Peter der Schmied erkannte in ihm seinen Schutzpatron und Schutzgeist, der ihn oft aus der Not und Gefahr sichtbarlich errettet und ihm zuletzt die drei Wünsche gewährt hatte. Jetzt aber sprach Petrus: „Hebe Dich weg, der Himmel bleibt Dir verschlossen; Du hast das Beste zu erbitten vergessen: die Seligkeit“ – Auf diesen Bescheid wandte sich Peter, und gedachte sein Heil in der Hölle zu versuchen, und wanderte wieder abwärts, fand auch bald den rechten, breiten und vielbegangenen Weg. Wie aber der Teufel erfuhr, daß der Schmied von Jüterbogk im Anzuge sei, schlug er das Höllenthor ihm vor der Nase zu und setzte die Hölle gegen ihn in Vertheidigungsstand. Da nun der Schmied von Jüterbogk weder im Himmel noch in der Hölle seine Zuflucht fand, und auf Erden es ihm nimmer gefallen wollte, so ist er hinab in den Kiffhäuser gegangen zu Kaiser Friedrichen, dem er einst gedient. Der alte Kaiser, sein Herr, freute sich, als er seinen Rüstmeister Peter kommen sah und fragte ihn gleich, ob die Raben noch um den Thurm der Burgruine Kiffhausen flögen? Und als Peter das bejahte, so seufzte der Rothbart. Der Schmied aber blieb im Berge, wo er des Kaisers Handpferd und die Pferde der Prinzessin und die der reitenden Fräulein beschlägt, bis des Kaisers Erlösungsstunde auch ihm schlagen wird. – Und das wird geschehen nach dem Munde der Sage, wenn dereinst die Raben nicht mehr um den Berg fliegen, und auf dem Rathsfeld nahe dem Kiffhäuser ein alter dürrer abgestorbener Birnbaum wieder ausschlägt, grünt und blüht. Dann tritt der Kaiser hervor mit all seinen Wappnern, schlägt die große Schlacht der Befreiung und hängt seinen Schild an den wieder grünen Baum. Hierauf geht er ein mit seinem Gesinde zu der ewigen Ruhe.
(S. 44-46)
DMB Nr. 26: „Das Thränenkrüglein“
Es war einmal eine Mutter und ein Kind, und die Mutter hatte das Kind, ihr einziges, lieb von ganzem Herzen, und konnte ohne das Kind nicht leben und nicht sein. Aber da sandte der Herr eine große Krankheit, die wütete unter den Kindern und erfaßte auch jenes Kind, daß es auf sein Lager sank und zum Tode erkrankte. Drei Tage und drei Nächte wachte, weinte und betete die Mutter bei ihrem geliebten Kinde, aber es starb. Da erfaßte die Mutter, die nun allein war auf der ganzen Gotteserde, ein gewaltiger und namenloser Schmerz, und sie aß nicht und trank nicht und weinte, weinte wieder drei Tage lang und drei Nächte lang ohne Aufhören, und rief nach ihrem Kinde. Wie sie nun so voll tiefen Leides in der dritten Nacht saß, an der Stelle, wo ihr Kind gestorben war, thränenmüde und schmerzensmatt bis zur Ohnmacht, da ging leise die Thüre auf, und die Mutter schrak zusammen, denn vor ihr stand ihr gestorbenes Kind. Das war ein seliges Engelein geworden und lächelte süß wie die Unschuld und schön wie in Verklärung. Es trug aber in seinen Händchen ein Krüglein, das war schier übervoll. Und das Kind sprach: „Oh lieb Mütterlein, weine nicht mehr um mich! Siehe, in diesem Krüglein sind deine Thränen, die du um mich vergossen hast; der Engel der Trauer hat sie in dieses Gefäß gesammelt. Wenn du nur noch eine Thräne um mich weinest, so wird das Krüglein überfließen, und ich werde dann keine Ruhe haben im Grabe und keine Seligkeit im Himmel. Darum, o lieb Mütterlein, weine nicht mehr um dein Kind, denn dein Kind ist wohlaufgehoben, ist glücklich, und Engel sind seine Gespielen.“ Damit verschwand das todte Kind und die Mutter weinte hinfort keine Thräne mehr, um des Kindes Grabesruhe und Himmelsfrieden nicht zu stören.
(S. 138/9)
DMB I 37: „Der Hase und der Fuchs“
Ein Hase und ein Fuchs reisten beide mit einander. Es war Winterszeit, grünte kein Kraut, und auf dem Felde kroch weder Maus noch Laus. „Das ist ein hungriges Wetter,“ sprach der Fuchs zum Hasen, „mir schnurren alle Gedärme zusammen.“ – „Ja wohl,“ antwortete der Hase. „Es ist überall Dürrhof, und ich möchte meine eignen Löffel fressen, wenn ich damit ins Maul gelangen könnte.“
So hungrig trabten sie mit einander fort. Da sahen sie von weitem ein Bauernmädchen kommen, das trug einen Handkorb, und aus dem Korb kam dem Fuchs und dem Hasen ein angenehmer Geruch entgegen, der Geruch von frischen Semmeln. „Weißt du was!“ sprach der Fuchs: „Lege dich hin der Länge lang, und stelle dich todt. Das Mädchen wird seinen Korb hinstellen, und dich aufheben wollen, um deinen armen Balg zu gewinnen, denn Hasenbälge geben Handschuhe; derweilen erwische ich den Semmelkorb, uns zum Troste.“
Der Hase that nach des Fuchsen Rath, fiel hin und stellte sich todt, und der Fuchs duckte sich hinter eine Windwehe von Schnee. Das Mädchen kam, sah den frischen Hasen, der alle Viere von sich streckte, stellte richtig den Korb hin und bückte sich nach dem Hasen. Jetzt wischte der Fuchs hervor, erschnappte den Korb und strich damit querfeldein, gleich war der Hase lebendig und folgte eilend seinem Begleiter. Dieser aber stand gar nicht still und machte keine Miene, die Semmeln zu theilen, sondern ließ merken, daß er sie allein fressen wollte. Das vermerkte der Hase sehr übel. Als sie nun in die Nähe eines kleinen Weihers kamen, sprach der Hase zum Fuchs: „Wie wäre es, wenn wir uns eine Mahlzeit Fische verschafften? Wir haben dann Fische und Weißbrod, wie die großen Herren! Hänge deinen Schwanz ein wenig ins Wasser, so werden die Fische, die jetzt auch nicht viel zu beißen haben, sich daran hängen. Eile aber, ehe der Weiher zufriert.“
Das leuchtete dem Fuchs ein, er ging hin an den Weiher, der eben zufrieren wollte, und hing seinen Schwanz hinein, und eine kleine Weile, so war der Schwanz des Fuchses fest angefro/ren. Da nahm der Hase den Semmelkorb, fraß/ die Semmeln vor des Fuchses Augen ganz gemächlich, eine nach der andern, und sgte zum Fuchs: „Warte nur, bis es aufthaut, warte nur bis ins Frühjahr, warte nur bis es aufthaut!“ und lief davon, und der Fuchs bellte ihm nach, wie ein böser Hund an der Kette.
(S. 127/8)
Aus dem Neuen Deutschen Märchenbuch (1856)
NMDB Nr. 16: „Die scharfe Scheere“
In einem kleinen Städtchen war einmal ein frommes Schneiderlein, das wartete gar fleißig seiner Arbeit und rührte sich vom Morgen bis zum Abend mit Nähnadel und Fingerhut, Scheere und Bügeleisen, brachte es aber gar nicht weit damit und kam zu nichts rechtem. Alles was man von seinem Glücke sagen konnte, war: daß sothanes Schneiderlein sich leidlich und ehrlich durchflicke. Die Familie, aus Frau und mehreren Kindern bestehend, welche erhalten sein wollte, schwere Zeit und durch sie manche Sorge, erpreßten dem Schneiderlein manchen Seufzer. Hätte es gerne etwas besser gehabt, wußte aber nicht, wie dieß anfangen; hätte gerne noch mehr gearbeitet, konnte aber doch nicht mehr thun, als zu thun ihm aufgetragen wurde, und konnte keine Kundschaft herbeizaubern, so sehr er dieß auch manchesmal wünschte.
Aber die Zeit wurde immer schlechter, und es gedieh dahin, daß das arme Schneiderlein keinen einzigen Gesellen mehr halten konnte, und als sein letzter Lehrling losgesprochen war, und das Räntzel geschnürt hatte, und in die Fremde gewandert war, so meldete sich kein anderer Knabe zum Lehrling, denn die Leute sagten dem Schneiderlein nach, es sei weiter nichts als ein Flickschneider, welches Wort nicht viel mehr sagen will, als ein Lump.
Da klopfte eines Tages schon gegen die Abenddämmerung endlich einmal wieder ein Schneidergeselle an, grüßte das Handwerk und bat um Arbeit. Dem klagte das arme Meisterlein gleich seine Noth, und sprach, es wollte ihm von Herzen gerne Arbeit geben, so es deren nur hätte. Der Schneidergeselle aber antwortete, der Meister solle ihn nur annehmen; wo er arbeite, da sei das Glück, da gebe es genug zu schaffen.
„Nun wohl! Wir wollen es auf acht Tage probiren“, sagte der Schneider, der leicht Hoffnung schöpfte, und wäre es auch nur ein Fingerhut voll gewesen. Einiges fand sich noch zu flicken vor, und am andern Morgen begann die Arbeit; Meister und Geselle saßen einander gegenüber, und dem ersten stand die Nadel still, als er sah, wie flink und fertig der neue Geselle nähete. Dessen Nadel flog nur so, man sah kaum die arbeitende Hand.
Nun betrachtete sich der Meister seinen neuen Gesellen auch weiter, und verwunderte sich über dessen Gestalt. Derselbe war schier so dünn wie ein Zwirnsfaden; das nichts weniger als wohlbeleibte Schneiderlein war gegen jenen, was ein starker Stamm ist gegen eine dünne Gerte; das Gesicht des Gesellen war dem Meister nicht angenehm; es ähnelte jenes Physiognomie aufs Haar der eines Ziegenbockes, und nebenbei hing der Geselle an alles was er sprach, ein seltsam kicherndes Gelächter, das accurat wie meckern klang.
Kaum hatte die Arbeit begonnen, als es an die Thüre klopfte, und ein fremder Herr eintrat, welcher ein neues Gewand bestellte, und das Geld für das Tuch gleich auf den Arbeitstisch legte. Zitternd vor Freude hüpfte das Schneiderlein um den Fremden herum, und nahm das Maas. Ach, es hatte so lange nicht das wonnige Gefühl einer Schneiderseele empfunden, ein Maas zu einem nagelneuen Gewande zu nehmen. Der Fremde empfahl Eile und ging, und die Frau Meisterin sollte geschwind in den Tuchladen gehen, das Tuch zu holen, konnte sich nicht schnell genug anziehen.
Sieht der Meister, daß ich Recht hatte? fragte der Geselle. Mit mir kommt das Glück ins Haus, mähähähä!
Freut mich, freut mich sehr! antwortete schmunzelnd das Schneiderlein.
Zehn Thaler hat der Herr zu Tuch da gelassen? fragte der Geselle weiter. Da schickt man achte in den Tuchladen, und zweie behält man – mähähähä!
Gott soll mich behüten und bewahren! rief erschrocken das Schneiderlein! Nein das wäre eine Sünde, das wäre unrechtes Gut, das bringt kein Gedeihen!
Lasse mich der Meister aus mit – und Sünde – solche Worte kenn' ich nicht – mähähähä! erwiederte mit einem ungemein spöttischen Gesichte der Geselle, immerfort fleißig arbeitend. Man riecht dem Meister recht das kleine Stadtnest an, darin wir sitzen – da sollte einmal der Meister in einer großen Stadt leben, und ein Kunde so dumm sein, wie der unsrige, das Geld zum Tuche voraus zu bezahlen! Dort mußte man von zehn Thalern gleich fünfe behalten, weil so gar viele andere Kunden das Tuch, das die Schneider zum Gewande thun, nie und niemals bezahlen, und Auslagen nebst Macherlohn zum – zum Teufel sind – mähähähä!
Das fromme Schneiderlein fädelte einen neuen Faden in seine Nadel, zog diesen recht lang aus, hielt ihn dem Gesellen unter die Nase, und sagte: Sieht Er, Mosjö! Ehrlich währet am längsten! –
Eine gute Zehrung, mit der man weit kommt! spottete der Geselle mit seinem steten unausstehlichen Meckerlachen.
Das Tuch wurde gebracht, es war fein und gut; der Schneider spitzte die Kreide und schickte sich zum zuschneiden an. Der Geselle blickte in die Camera obscura, die sich an den Arbeitstischen der Schneider befindet, um Abfälle von Tuch, Futter und dergleichen aufzunehmen, und scharrte mit dem Fuße darinnen umher, es lag aber gar nichts darin, als einige Fasern von der letzten Flickarbeit – dann folgte des Gesellen lauernder Blick jeder Handbewegung des Meisters – dann sagte er: Nun Meister! Euer Ältester braucht nothwendig ein Röcklein, oder die Frau Meisterin könnte eine Sonntagsjacke wohl brauchen. Schneidet hübsch mit Verstande zu – werft die Lappen her – in die Hölle – mähähähä!
Beim Teufel ist die Hölle – nicht bei mir! Nicht ein Flecklein zu einem Haubenläppchen für meine Frau behalte ich! versetzte der ehrliche Schneider.
Pah! rief der Geselle und zog sein Bocksgesicht zu einer gräuöich fletschenden Grimasse. Wozu ist denn die Hölle da? Wozu hat sie ein Loch – mähähähä?
Es heißt eigentlich gar nicht Hölle, es heißt Höhle, weil es ein dunkler hohler Raum ist – mit der Hölle hat kein ehrlicher Schneider was zu schaffen – versetzte der das Tuch mit größter Gewissenhaftigkeit zuschneidende Kleiderkünstler.
Schulmeister! O! Deutscher Sprachmeister! – spottete der Geselle und warf einen Blick voll des grimmigsten Hohnes auf den redlichen Mann. Dieser aber ließ sich nicht irren, und die neue Arbeit wurde begonnen. Im Laufe desselben Tages gingen noch andere Bestellungen ein – eine nach der andern; bereits war Arbeit auf eine ganze Woche vorhanden.
Dem Schneidermeister gefiel sein neuer Geselle gar nicht; er hätte ihm gern am Morgen des ersten Arbeitstages schon wieder Feierabend gegeben, aber er hatte ihn nun einmal auf eine Woche lang angenommen! der Geselle schien in der That das Glück mitgebracht zu haben, und schickte er ihn aus der Arbeit, so konnte er allein nicht in zwei Wochen alles fertigen, was bestellt war. Und einen zweiten Arbeiter, wie dieser Geselle war, gab es gar nicht.
Am folgenden Tage setzte sich die Arbeit rührig fort, unter manchem Zwiegespräch, unter mancher Spötterei und manchem den Meister verhöhnenden Bockgelächter, daran sich dieser jedoch wenig kehrte. Er dachte: spotte, höhne du nur immerzu, stichle so viel du willst, arbeite nur so fort; dein Spott beißt mich nicht, dein Hohn sticht mich nicht – der heiße Bögelstahl deiner Zunge brennt mich nicht.
So kam der Schneider mit Geduld und gutem Gewissen viel weiter, als wenn er fort und fort mit dem Gesellen gezankt und gehadert hätte.
Zwischen die Arbeitstage fiel jetzt ein Sonntag. Meister und Meisterin schliefen eine Stunde länger, es war ja Ruhetag. Am Abende vorher hatte die Meisterin die Werkstätte recht schön ausgekehrt, und aufgewaschen, war aber nicht wenig erstaunt, als sie am Sonntagmorgen hineinschaute, den Boden rings umher wieder voll Tuchschnitzel, Zwirnstücke und Futterfetzen liegen zu sehen, und auf seinem Platze den Gesellen in voller Arbeit; er hatte ein reines Hemde an, welches vorn aufstand, und mit Entsetzen gewahrte die Meisterin, daß des Gesellen Brust über und über voll schwarzer Haare war.
Sie zog sich zurück und drückte ihrem Manne ihre Verwunderung aus, daß er den Gesellen am lieben Sonntage arbeiten lasse, was doch eine Sünde sei – und sie habe doch erst Abends zuvor die Werkstatt so schön gefegt.
Wie? Er arbeitet? fragte ganz verwundert der Meister. Mir ist nicht eingefallen, ihm das zu heißen. Das soll er gleich bleiben lassen!
Rasch trat der Meister in die Werkstatt: Schönen guten Morgen auch! Aber was soll das heißen? Weiß Er nicht daß heute Sonntag ist?
Großen Dank, Meister! Nä, mähähähä!
Hör' Er! lasse Er Sein dummes lachen! Ich verbitt es mir! sagte der Meister und warf sich in die Brust. Heute ist Sonntag, heute wird ein für allemal nicht schneiderirt. Sonntag ist Ruhetag! –
Halte mir doch der Meister mein arbeiten nicht für ungut! vertheidigte sich der Geselle mit scheinbarer Demuth. Für wen arbeite ich denn? Für Ihn oder für mich? Doch ohne Zweifel für Ihn. Ich bin nun einmal an stete Thätigkeit gewöhnt, ich muß mir stets was zu thun machen – ich kenne keine Ruhe und keinen Müssiggang. Kennt Ihr nicht das schöne Sprüchlein: Müssiggang ist des Teufels Ruhebank, und aller Laster Anfang? Mähä –
Mag sein – antwortete der Meister, einigermaßen verwirrt. Jetzt höre Er auf zu arbeiten. Frühstücke Er und ziehe Er sich an. Er thäte auch wohl, sich zu rasiren; schau Er einmal in den Spiegel – Er hat ja einen Bart justement wie ein Ziegenbock.
Mähähähä! lachte der Geselle überlaut. Verzeih' mir's der Meister – ich muß lachen – mähähähä! daß Ihr einen solchen Vergleich braucht. Nun Euer Wille soll geschehen. – Der Geselle ging in seine Kammer, rasirte sich und zog sich an, und sah mit dem Barte, den er sich hatte stehen lassen, wie eine lebendige Satyre auf die ganze löbliche Schneiderzunft aus.
Er hatte einen kohlschwarzen Frack von glänzendem Sommerzeug an, dessen Schöße bis auf die Erde hingen, und in der Tasche des einen bauschte etwas, als wenn eine lange Schlangengurke drinnen stäke, vermuthlich eine Tabakspfeife, denn es hing eine Art schwarzer Quaste heraus. Unter dem Fracke trug der Schneidergeselle eine Weste von feuerfarbigem Berkal, und seine Sommermodesten waren von ächtem Nankin. Einen Hut besaß der Geselle nicht, sondern bloß ein flottes barettähnliches Käpplein von schwarzem Sammet, mit rothem Rande und mit Goldschnur baspolirt. In der Hand trug er einen wunderlich knorrigen Stock von Wachholderholz, dessen Griff eine Art Drachenkopf bildete, welcher als ein Spiel der Natur so gewachsen war.
Ei – Er hat sich ja recht stattlich herausgeputzt, Schwarzburger! rief der Meister den Gesellen an, der wie das Wanderbuch auswies, aus dem Schwarzburgschen stammte. Nur Sein Bart gefällt mir nicht, und Sein Käpplein auch nicht, es hat vorn so seltsame Ecken, just als ob ein Paar Bockshörnlein darunter steckten!
Ei daß Euch der Bock stieße, Meister! rief der Geselle. Erst soll ich armer Schwartenhans einen Bocksbart, dann gar Bockshörnlein haben! Wisset, wenn Ihr so seid, so kann ich auch bocken, kann auch Feierabend machen.
Friede am lieben Sonn- und Feiertage! gebot der Meister. Wir wollen einander nicht gegenseitig ins Bockshorn jagen. Hier Geselle, hat Er ein Gesangbuch – wir gehen in die Kirche.
Vergebens hielt der Meister dem Gesellen das Buch hin – jener berührte es nicht – und lachte verlegen:
Mähähähä, Meister! Legt's hin – legt's hin – ich muß – ja zu meiner Schande muß ich's Euch gestehen – ich kann nicht – ich kann nicht lesen. –
Hm! hm! brummte das Schneiderlein verwundert, und sprach: Das nimmt mich wunder, daß bei den zahllosen trefflichen Schulanstalten, deren Deutschland sich zu erfreuen hat, und bei der Ueberzahl von Lehrern, welche rings die wahre Bildung und Aufklärung verbreiten, irgendwo der Unterricht noch so mangelhaft beschaffen sein sollte, daß ein deutscher Schneider nicht lesen könnte – indessen nehme Er nur das Buch, lege Er es in der Kirche vor sich hin, und thue Er, als sähe Er hinein – das machen viele Tausende so, die recht gut lesen können. Es sieht doch aus wie Andacht.
Ich kann wahrhaftig nicht, verschone mich der Meister damit! lehnte der Geselle beharrlich ab. Ich kann nicht in die Kirche gehen – die kühle Luft beklemmt mir meine schwache Brust – ich will ein wenig spazieren gehen, die Natur ist mein Tempel – und hier ist eine schöne Gegend, nicht wahr Meister?
O ja – mischte sich die Meisterin in das Gespräch. Wenn er zum untern Thore hinaus ist, führt gleich links der Weg in ein Felsental; man heißt diesen Weg nur den Drachengraben, und weiter hinten steht ein schöner Steinfels, den heißt man die Teufelskanzel.
Ah! Das ist schön! Da will ich hingehen! Küsse die Hand, Frau Meisterin! Wünsche allerseits gute Andacht! Mähähähä! –
Am Sonntage nach der Nachmittagskirche ging das ehrsame Schneiderlein mit seiner Familie auch spazieren; das Wetter war sehr einladend, und an einem nahen Vergnügungsorte, allwo es gutes Bier gab, wurde es sehr voll. Die Kinder fanden Spielgenossen, die Frau Meisterin fand Freundinnen und Gevatterinnen, und der Meister fand einen ihm wohlwollenden geistlichen Herrn, mit dem er sich noch ein wenig in der Nähe des Lustgartens in guten Gesprächen erging. Da begegnete ihnen der Geselle.
Mein, was ist das für eine Figur? Die hab ich doch hier noch nicht gesehen! – fragte der geistliche Herr. Schaut Meister, diese verzwickte Gestalt, diese miserable Physiognomie, und wie der Kerl hinkt!
Wahrhaftig, er hinkt, das habe ich noch gar nicht wahrgenommen! erwiederte der Schneider.
Wie? Ihr kennt ihn, Meister? –
Es ist mein neuer Geselle – antwortete mit einer gewissen Wichtigkeit und betonend, das Schneiderlein; den es schmeichelte ihm doch, der Mann zu sein, welcher einen Gesellen hielt. Dieser Geselle aber schlug einen Nebenweg ein, und bog links ab, um den beiden, die von ihm sprachen, nicht zu begegnen.
Der geistliche Herr schien ebenso neugierig als argwöhnisch, er richtete Frage auf Frage an den Meister, und machte dem guten Manne, der so ehrlich war, keine Hölle haben zu wollen, dennoch die Hölle heiß.
Was sagt Ihr mir da alles, Meister? rief der geistliche Herr. Wie ein Bock sieht er aus – meckert wie ein Bock – scheint Hörnlein unter der Kappe zu haben – hinkt – faßte das Gesangbuch nicht an – kann die Kirchenluft nicht vertragen? O du Erzbock, du Sündenbock! Du Bock aller Böcke! Meister, um des Himmels willen, welch einen Bock habt Ihr geschossen, diesen Bock in Euer christliches Haus aufzunehmen! Dankt dem Himmel, der Euch heute mich hier finden ließe. Euer Geselle – das ist der helle Teufel! –
Das Schneiderlein stieß einen Schrei aus und war nahe daran, in Ohnmacht zu fallen – ja – ja – alles wurde ihm klar – die plötzlich sich häufende Arbeit, der schlimme verführerische Rat, vom Tuchgelde zu behalten, Tuch zu ganzen Jacken in die Hölle zu werfen – des Gesellen Hohn, den er stets gegen alles aussprach, was hehr und heilig war, jetzt stand alles im fürchterlichen Zusammenhange da. Wenn das Tischgebet gesprochen wurde, hatte der Geselle Nasenbluten bekommen, und war zur Tür hinausgelaufen – weder zum Fleisch noch zu den Kartoffeln hatte der Geselle sich Salz genommen, das Ding in seiner langen Rocktasche hatte sich bisweilen wunderlich bewegt, als zapple ein Aal darin, und die Quaste die manchmal herausbaumelte, war nicht von schwarzem Kamelgarn, sondern es waren Haare.
Meister! begann auf's neue sehr ernst der geistliche Herr: Ihr seid ausersehen zu einer großen That, wie noch nie ein Schneider eine verrichtete – vollbringt Ihr sie, so tragt Ihr ewigen Ruhm davon; unterlaßt Ihr, sie zu vollbringen, so seid Ihr mit Leib und Seele, mit Weib und Kindern verloren zeitlich und ewiglich. Ihr habt jetzt den Schwarzen im Hause, Euch dient er, auf Spekulation, Eure Seele zu verderben, der Seelenfänger. Habet Acht, wir wir ihn bannen und ihm das Wiederkommen verleiden, denn das wißt Ihr doch, daß eine Katze nicht wieder das Haus besucht, darin man ihr den Schwanz abhackte oder die Ohren abschnitt. Laßt vom Schleifer Eure Schere schärfen, und habt sie zur Hand – das Weitere will ich Euch dann schon noch sagen.
An diesem Abende gab es an dem Vergnügungsorte, nächst dem Städtchen, wo das Schneiderlein seßhaft war, zwischen Schneidergesellen und Schuhmachergesellen fürchterliche Prügel. Ein Schuhmachergeselle hatte über die unförmigen Stiefeln gespottet, welche der fremde Schneidergeselle trug, es waren erst witzige, dann grobe Worte gefallen, dann die Schläge hageldicht, erst mit Stöcken, dann mit Stuhlbeinen, und noch nie hatte es so viele zerschlagene Nasenbeine, Beulen, Löcher in den Köpfen und dergleichen gegeben. Alle Leute kamen in dem Urteil überein, der Teufel sei völlig los gewesen.
Am andern Tage ging kein Geselle an die Arbeit. Die ganze Gesellenschaft war aufgeregt, keiner mochte arbeiten, man feierte blauen Montag, zog rauchend und singend sich Arm in Arm führend, gassenbreit durch das Städtchen, zu den Schneidern gesellten sich Barbierer-, Drechsler-, Glaser-, Tuchmacher- und Färber-Gesellen, zu den Schustern aber Gerber-, Tischler-, Schmiede-, Maurer- und Zimmergesellen. Der Schwarzburger war der Führer der erstgenannten Partei – er hatte eine rothe Hahnenfeder auf sein Barettlein gesteckt, und als Abends die Gesellenschlacht entbrannte, zu der man sich den ganzen Tag über durch manches Glas Branntwein gehörig vorbereitet hatte, floß vieles Blut, und was noch nie dagewesen war, die Schneiderpartei behauptete siegreich den Kampfplatz, indes kam am Abende dieses blauen Montags kaum einer ohne blaue Flecken oder Blutrünste (= blutige Schorfe, verschorfte Wunden, vgl. heute: blutrünstig, sk) heim.
Nur der Schwarzburger zeigte keine Spur einer Verwundung, auch keine Ermüdung, sondern arbeitete am Dienstag früh wieder flott und rüstig, zog aber ein sehr schiefes Gesicht, als jener geistliche Herr in die Werkstätte trat, und rückte unruhig hin und her. Der Meister empfing denselben mit vieler Reverenz, zeigte hinter dem Rücken des Gesellen auf die frischgeschliffene scharfe Schere, und der geistliche Herr begann allerlei Fragen an den Gesellen zu richten, so zum Beispiel: wie ist dein Taufname? – Da stank es schon in der Fechtschule. Ich bin nicht getauft, antwortete der Geselle.
So bist du vielleicht ein Jude? fragte der geistliche Herr.
Ich bin kein Jude.
Oder ein Türke? Oder ein Heide? – ging das Fragen fort.
Der Geselle tat als höre er nicht wohl, und antwortete: Ja, ich bin ein Schneider. Mähähähä!
Der Teufel bist du, unsauberer Geist! donnerte der geistliche Herr. Exorciso te, creatura daemonica! (lat.: Ich verbanne dich, dämonisches Wesen!, sk)
Da begann der Teufel zu zittern, und bekam den Krampf in seine dürren Waden, und der Schneider hatte sich mittlerweile unter den Sitz des Teufels gebückt und die rechte Stelle ersehen, und schnitt jetzt mit einem kühnen Griffe dem Teufel rupps und kahl den bisher so sorglich verwahrten Schwanz ab. Der Teufel tat ein Höllenbrüll und fuhr auf und davon und kam niemals wieder. Den Schwanz ließ er fallen, und der geistliche Herr hob denselben auf, um ihn zu andern Seltenheiten der Natur und Kunst zu legen, die man in der Reliquienkammer aufbewahrte.
Das Schneiderlein aber wurde gefeiert als ein Held, bekam vielen Zuschlag, und hatte später zwölf Gesellen und sechs Lehrburschen sitzen. Litt aber nicht, daß einer gute und große Lappen in die Hölle warf. Die scharfe Scheere wurde zu keiner andern Arbeit mehr verwendet, sie blieb ein Angedenken und Kleinod in der Familie, und als der Schneider im Rufe eines frommen Christen verstorben war, meißelte man das treue Abbild derselben in den Grabstein, und mauerte diesen an die Außenwand der Kirche, just da, wo innen die Reliquienkammer sich befand.
Seitdem geht nun der Teufel ohne Schwanz umher, und der große Dienst, den der Schneider der Welt durch seinen kecken Schnitt zu leisten vermeinte, bleibt noch sehr in Frage gestellt; denn als der Teufel seinen Schwanz noch hatte, den er allerdings gern auf alles legte, konnte man ihn besser aus dem Wege gehen, als jetzt, wo er ohne Schwanz umherstolziert; seit er so gestutzt und stattlich erscheint, kam der Name Stutzer auf, für Leute, die geschniegelt, gebiegelt und gestriegelt sich sehen lassen, sich in die Brust werfen, hochnäsig und hochmütig, und dabei doch nichts als arme oder dumme Teufel sind.
(S. 100-112. Mit diesem Märchen kann man die Sage FSS Nr. 3.109: Die scharfe Scheere vergleichen, s.d. sk)
NMDB Nr. 47: „Die Schlangenamme“
Es war einmal eine arme Frau, erzählte die Schlange*: die ging eines Morgens auf die Wiese, Gras zu mähen, und trug mit sich ihr kleines Kind, das noch an ihrer Brust trank. Sie legte das Kindlein, als sie dasselbe gestillt hatte und es eingeschlafen war, sanft auf den Rasenrain, wo sie es weich und sorglich bettete, unter den Schatten einer alten Weide, welche hohl war. Im Stamme dieser Weide aber wohnte eine Schlange.
Die Frau wartete fleißig ihrer Arbeit, bis zur Stunde des Mittags in der sie ihre Sense niederlegte, und hin zu ihrem lieben Kinde ging, ihm wieder Nahrung zu geben, so wie auch selbst ihr Mittagsbrod zu genießen. Als letzteres geschehen war, legte sie ihr Kindlein an ihre Brust und summte ihm ein Schlummerlied, und da der Tag sehr heiß war, und die Arbeit des Grasmähens die Frau auch ermüdet hatte, so entschlummerte sie selbst, und das Kind ließ ab von der Brust der Mutter und schlief in ihren Armen sanft ein.
Das alles hatte die kleine Schlange gesehen, die im Stamme der alten Weide wohnte, weil sie hervorgekrochen war, sich zu sonnen und zu sömmern in der heißen Mittagsluft, und weil wir Schlangen gerne Milch trinken, so schlich sie sich sachte/ herbei, und saugte sich an der Brust der jungen Mutter an, und trank mit großem Behagen die süße Muttermilch. Aber groß war der Schrecken jener Frau, als sie aus ihrem Schlummer erwachte, und nun gewahrte, welch einen ungebetenen Gast sie ernährte. Da erwachte die alte Feindschaft zwischen den Weibern und der Schlange auf das höchste, aber der Schlange gefiel es allzuwohl da, wo sie war, und die Frau durfte sie nicht mit Gewalt wegreißen, denn gleich beim ersten Versuche hielt sich die Schlange so fest, daß es schmerzte, und die junge Mutter mußte gewärtigen, daß die Schlange sie beißen würde, wenn sie ihr Gewalt anthue.
Da blieb nun der Frau für ihr Kindlein nur die eine Brust, und die andere behauptete die Schlange, die nicht mehr abließ, zumal die Milch ihr wundersam zum Wachsthume gedieh, und dem Kindlein schadete es auch nicht im mindesten, daß es an der Schlange eine Milchschwester hatte, es gedieh ebenfalls und wuchs mit der Schlange um die Wette. Die Frau hätte ganz zufrieden sein können, denn wo Schlangen wohnen, kehrt Glück und Segen ein, wenn nicht das blöde Vorurtheil und die Furcht gewesen wäre, die Schlange würde sie stechen, als ob wir Schlangen einen Stachel im Maule hätten. Auch nennen die Menschen uns häßlich, während sie sich für schön halten, und so beschränkt in ihrem Verstande sind, nicht einsehen zu können, daß die ganze Schöpfung kein so vollendet schönes Geschöpf aufzeigt, als ein Schlange ist; Rundung und Fülle, frei von der Unzier häßlicher Haare und Borsten, Anmuth in jeder Bewegung, Vollkraft im tadellosen Wellenbau unseres Körpers, der unentstellt ist durch eckige, krallige Glieder oder Stelzbeine. Da sich nun aber fort und fort jenes Weib abhärmte, und die Schlange sich fort und fort an ihr ernährte, und bereits die Dicke eines Men/schenarmes erreicht hatte, so mußte das Kind entwöhnt werden. Aber die Schlange ließ sich nicht entwöhnen, die wuchs und wuchs, und die Frau mußte einen Tragbeutel anfertigen, in welchem sie den schweren Schlangenleib trug, während der Schlangenrachen fest an ihre Brust geheftet blieb. Zum Unglück hatte die Frau auch noch den Hohn ihrer Nachbarn, die ihr den Namen Schlangen-Amme beilegten.
Schon zehn Monate trug jene Frau die Schlange, da kam von ohngefähr ein Fremder in das Dorf, der hörte die Märe, von der alle Welt sprach, und ging zu der Frau, und sah den Gast, und ihre sich abzehrende Gestalt, und ihren Jammer, daß die Schlange nicht von ihr abließ – und sagte ihr: Frau, ich will Euch wol von dieser Schlange helfen, wenn Ihr mir im Vertrauen nach dem Walde folgen wollt, und Euch nicht fürchten, wenn Ihr der Schlangen noch mehr seht. Daß Euch keine ein Leid zufügt, dafür stehe ich.
Dieser Mann war ein Schlangenbeschwörer, die Frau folgte ihm vertrauungsvoll in den nahen Wald, darin er an einer baumfreien Stelle mit seinem Stabe einen Kreis zog, und auf einem kleinen Pfeifchen gellend pfiff. Da rischelte und raschelte es bald darauf durch Gras und Waldlaub und Büsche und es kamen von allen Seiten Schlangen herbei, große und kleine, daß der Frau angst und bange ward, und sie aus dem Kreise entspringen wollte, aber der Zauberer winkte ihr, und bedeutete ihr ruhig zu stehen, und blies wieder, und da begannen alle Schlangen ihre Köpfe und Oberleiber kerzengerade in die Höhe zu richten und zu tanzen, und mit einemmale wurde auch die Schlange an der Brust der Frau unruhig, machte mit ihrem Leibe sanfte Bewegungen, ihr Kopf ließ die Brust fahren und rasch entschlüpfte sie aus dem Tuche, glitt zu Boden nieder und ringelte sich auf die andern/ Schlangen zu, um mit ihnen zu tanzen, während der Zauberer auf seinem Pfeiflein lustige Stücke spielte.
Da fühlte jenes Weib sich mit einem Male erlöst, und war ganz glücklich; sie konnte nun wieder ungehindert arbeiten, war nicht mehr der Gegenstand eines unvernünftigen Abscheues ihrer Mitmenschen, welche Wunders glaubten, womit die arme Frau sich versündigt habe, weil sie den Lintwurm tragen mußte und erzog mit Liebe und Sorgfalt ihr munteres Kindlein.
Als das Kind mehrere Jahre alt geworden war, lief es eines Tages mit Nachbarskindern in den nahen Wald, dort Beeren zu suchen. Es war schon gegen Abend, und die Kinder waren noch nicht wieder nach Hause gekommen. Die Mutter saß mit einer Arbeit an ihrer Thüre, und sahe von Zeit zu Zeit nach dem Ausgange des Waldes hin. Auf einmal hörte die Frau von dorther ein gräßliches Geschrei der Kinder durcheinander, und sah das Häuflein in eiligster Flucht aus dem Walde hervorstürzen, und nach dem Dorfe zu, aber ihr eigenes kleines Kindlein, das noch nicht so laufen konnte, wie die größeren, war nicht darunter. Und da schrie ein Knabe: Ein Wolf! ein Wolf! und ein zweiter schrie: Ein Bär! ein großer Bär! und ein dritter: Eine Schlange, eine gräuliche Schlange! daß der Mutter das Herz erschrak, und sie aufsprang und nach dem nahen Walde hin eilte.
Vergebens fragte sie die Kinder, die in Hast an ihr vorüber eilten, nach ihrem eigenen Kinde, keines stand ihr Rede, die Angst jagte alle vorbei. Kaum war das geschehen, so sah die Frau einen großen Wolf, der noch einige wunderliche Sprünge machte, aber dann vor ihren Augen zusammenbrach, und alle viere von sich streckte. Voll Entsetzen eilte die Frau am Wolfe vorüber, und erreichte den Saum des Waldes, da/ bot sich ihr ein schrecklicher Anblick. Ein laut brüllender Bär bäumte sich, aber nicht gegen die Frau, sondern im Kampfe mit einer großen Schlange, die ihn eng umringelt hatte, und ihm die Kehle zuschnürte – und kaum hatte jene ihn aufrecht gesehen, so stürzte er nieder, und neben der Stelle, wo er am Boden sich ausathmend und zuckend lag – o Wunder, da lag unversehrt und süß schlummernd, das Kind der Frau, auf welches diese sich mit einem lauten Freudenschrei stürzte. Jetzt aber ringelte sich die Schlange vom Halse und Leibe des Bären los, und kaltes Entsetzen übergoß die Frau auf's neue – sie kannte diese Schlange. Die Schlange aber sprach zu ihr: Du brauchst Dich vor mir nicht zu fürchten. Die Schlangen sind nicht falsch und nicht undankbar, wie ihr Menschen euch einbildet und euch einredet, und uns zu Sinnbildern eures Hasses stempelt. Du bist es, die mich so groß und stark gesäugt, daß ich im Stande war, den Wolf und den Bär zu entseelen, die Deinem Kinde Gefahr drohten. Ich habe Gutes mit Gutem gelohnt! Fahre wohl! – Und ringelte sich in die Büsche. –
(NDMB 302-306, vgl. die Sagenfassung in DSB 942: Die Schlangen-Amme 1853)
* Gegen Ende der Sammlung Neues deutsches Märchenbuch gibt es sog. Märchenketten, in denen eine Reihe von (überwiegend) Tiermärchen miteinander in inhaltlichen Zusammenhang gebracht werden. Das voranstehende Märchen Schlange Hausfreund endet damit, dass die Hauskatze ihre Freundin, die Schlange, bittet, ihr „die Geschichte von jener Frau“ zu erzählen, „welche lange Zeit eine Schlange an ihrer Brust trug“ (301).