Ziel des Fremdsprachenerwerbs

• Unter fachspezifischen Kursen sind Kurse zu verstehen, die sich auf spezielle Fertigkeiten und Inhalte beschränken, die nur oder hauptsächlich für spezielle Zwecke von bestimmten ‘Fachleuten’ verwendet werden. So wäre zum Beispiel ein Kurs mit dem Titel ‘Arzt-Patient- Gespräche in einer Praxis in Großbritannien’ ein fachspezifischer Kurs, dessen Adressaten qualifizierte deutsche Ärzte wären, die ihren Beruf in Großbritannien ausüben möchten.
• In einigen fachspezifischen Sprachkursen können die fachspezifischen Kenntnisse von null Kenntnissen der Zielsprache aus erworben werden – so zum Beispiel in Kursen, die darauf abzielen, die Lektüre von politischen Kommentaren in der russischen Presse (mit einem zweisprachigen Wörterbuch) zu lesen oder italienische Arien mit einem akzeptablen Akzent zu singen.
• In den meisten Fällen jedoch setzen fachspezifische Kurse (und die entsprechenden Lernziele) relativ gute allgemeine Sprachkenntnisse voraus. Die Entwicklung von fachspezifischen Fertigkeiten, wie zum Beispiel das Verfassen englischer wissenschaftlicher Texte, basiert auf allgemeinen englischen Sprachkenntnissen: es geht um eine fachspezifische Ausrichtung oder Fokussierung auf vorhandene Sprachkenntnisse.
• Der Erwerb fachspezifischer Sprachfertigkeiten ist entsprechend komplex.

• Die Tatsache, dass man die Fremdsprache für fachspezifische Zwecke lernen will, bedeutet nicht, dass man nurfachspezifische Aspekte der Zielsprache lernen muss! Dies hat mehrere Gründe:
  • Allgemeine Aspekte der Fremdsprache müssen fast immer mitgelernt werden, da die speziellen Aspekte der Zielsprache als Fachsprache nicht ‘allein’ verwendet werden können.
  • Was man lernen will. und wie man das lernt, sind oft zwei Paar Schuhe! So lernt man z.B. nicht, ein Pilot für ein Düsenflugzeug zu werden, indem man sich in der ersten Unterrichtsstunde in ein Düsenflugzeug setzt und übt! Literatur hierzu
  • Es kommt oft vor, dass Personen, die die Fremdsprache hauptsächlich für zum Beispiel technische oder wissenschaftliche Zwecke verwenden wollen, die Erfahrung machen, dass ihre fachspezifischen Fähigkeiten ergänzt werden müssen. So kann zum Beispiel das Abendessen nach einer Geschäftssitzung oder die Diskussion nach einem Vortrag wichtiger sein, als die Sitzung oder der Vortrag selbst; nur reichen hierfür die fachspezifischen Kenntnisse nicht aus.
• Eine Fachsprache ist u.a. durch seinen speziellen Wortschatz erkennbar. Interessanterweise liegt hierin aber gar nicht das Hauptproblem. Oft sind die relevanten Fachbegriffe ziemlich einfach zu lernen, weil sie den Fachbegriffen, die man aus der eigenen Fachkenntnis bereits beherrscht, sehr ähnlich sind. Viel schwieriger ist es, die Fachbegriffe angemessen zu benutzen: Diese Schwierigkeit ist natürlich zum Beispiel viel größer beim Verfassen eines Textes zu einem literarischen als zu einem mathematischen Thema.
• Eine Fachsprache ist auch dadurch zu identifizieren, dass fachspezifische Konventionen bei bestimmten Textarten gelten.
• Personen, die eine Fremdsprache für besondere fachliche oder technische Bereiche brauchen, müssen daher eine passende Mischung von fachspezifischen und allgemeinen Lernmaterialien benutzen.

Bestimmte Textsorten werden in der Fremdsprache oft anders strukturiert und präsentiert als in der Muttersprache.

• Unterschiede zwischen Sprachen betreffen nicht nur den Wortschatz, die Grammatik und die Aussprache, sondern auch wie verschiedene Arten von schriftlichen und mündlichen Texten aufgebaut werden.
• So gibt es z.B. in Japan, Amerika und Deutschland bei der Abwicklung von Geschäften große Unterschiede bzgl. ob und wie lange man über persönliche oder allgemeine Themen in einer Sitzung spricht, bevor man zu dem eigentlichen Thema des Treffens (d.h. dem ‚Deal’, der Festlegung von Auftragsbedingungen u.ä.) kommt.
• Experten sprechen ferner von großen Unterschieden bei Sachtextstrukturen in zum Beispiel deutschen, asiatischen und englischen Sachtexten, wobei von ‘zirkulären’, ‘verketteten’, und ‘linearen’ Strukturen die Rede ist.
  Kenntnisse über solche Unterschiede sind für viele Fremdsprachenlerner wichtig, auch wenn man darüber streiten kann, ob man sich immer an die Konventionen in einer fremden Kultur halten muss oder halten sollte.

• Clyne hat 1991 unterschiedliche Textkonventionen für englische und deutsche Fachtexte festgestellt [Clyne M. 1991 "Zu kulturellen Unterschieden in der Produktion und der Wahrnehmung englischer und deutscher wissenschaftlicher Texte", in Info Daf 18/4, 457-475].
• Kaplan 1997 weist auf verschiedene Probleme hin, die auftauchen können, wenn man einen fremdsprachlichen Text lesen oder schreiben will. Er erwähnt u.a. folgende vier Fragen, auf die es unterschiedliche Antworten für die unterschiedlichen Sprachen und Kulturen gibt:
  Worüber darf man diskutieren? Welche Art von Beweisen werden akzeptiert? Wie baut man sein Argument am besten auf? Wer darf mit wem in welcher Situation worüber sprechen? [Kaplan R.B. 1997 ”Is there a problem in writing and reading texts across languages”, in Martin Pütz (ed.) The Cultural Context in Foreign Language Teaching, Frankfurt: Lang, 19-34]
• House 1999 berichtet über mehrere ihrer eigenen kontrastiven Studien (deutsch/englisch) und entdeckt systematische Unterschiede auf verschiedenen Textebenen [House J. 1999 "Zum Erwerb interkultureller Kompetenz im Unterricht Deutsch", in Zeitschrift für Interkulturelle Kompetenz im Unterricht des Deutschen als Fremdsprache [Online], 1/3. [<https://www.ualberta.ca/>]

1. In Widdowson 1983 [Widdowson H. 1983 Learning Purpose and Language Use, Oxford: Oxford University Press] wird überzeugend argumentiert, dass der Fremdsprachenunterricht nicht hauptsächlich dazu dient, einen ‘authentischen’ Kontext für den Gebrauch der Fremdsprache, sondern einen ‘authentischen’ Kontext für den Erwerb der Fremdsprache zu liefern. In diesem Zusammenhang unterscheidet Widdowson zwischen Fremdsprachenunterricht als Kommunikation und Fremdsprachenunterricht für Kommunikation. Das erste ist nur wichtig, wenn dadurch das zweite zustande kommt!
2. Heribert Rück berichtet über seine Erfahrungen beim Erlernen der russischen Sprache. Er hatte zunächst mit einem Sprachkurs angefangen, bald jedoch damit aufgehört, um autonom weiterzulernen, und dies mit sehr geringen sozialen Kontakten [Rück H. 1995 "Zum Aufbau eines russischen Individualwortschatzes. Erfahrungen eines Autodidaktikers", in K.-R. Bausch, H. Christ, F.G. Königs & H.-J. Krumm (Hrsg.) Erwerb und Vermittlung von Wortschatz im Fremdsprachenunterricht, Tübingen: Narr, 165-173].