Lesestile

Bei diesem Lesestil sollten Sie sich folgende Fragen stellen:

• Warum gerade dieser Text? Was erwarten Sie von ihm?
• Woher stammt der Text?
• Welche Textsorte? Was für Informationen könnte gerade diese Textsorte enthalten?
• Was besagt die Überschrift? Was schließt sie aus?
• Wie lang ist der Text? Wieviel Inhalt ist überhaupt zu erwarten?

Versuchen Sie, die gefundenen Antwort zu einem Gesamturteil zusammenzufassen und entscheiden Sie dann, ob Sie weiterlesen wollen und wenn ja, welche(n) Lesestil(e) Sie anschließend anwenden wollen.

Im Regelfall praktizieren Sie bei der Lektüre eines einzigen Textes mehrere Lesestile nacheinander oder abwechselnd. Dazu ein Beispiel, das Sie aus Ihrer Lesepraxis sicher durch weitere ergänzen können.

Nehmen wir an, Sie müssen für ein Referat einen wissenschaftlichen Aufsatz lesen. Der Titel erscheint vielversprechend (überfliegendes Lesen). Deshalb prüfen Sie, ob der Text etwas enthält, was Sie interessiert (orientierendes Lesen), und wenn dies der Fall ist, fangen Sie an, die Hauptaussagen des Textes zu suchen (kursorisches Lesen). Einige Passagen lesen Sie gründlich (totales Lesen), bei anderen stellen Sie fest, dass sie weniger relevant sind (überfliegendes Lesen). Dabei achten Sie aber doch gezielt auf Schlüsselworte zu Ihrem Thema (selektives Lesen) und wenn Sie eines finden, versuchen Sie, den Text "drumherum" genau zu erfassen (totales Lesen). Zum Schluss gehen Sie noch einmal den Text durch, um alle wesentlichen Aussagen im Zusammenhang zu erfassen (kursorisches Lesen) und schreiben diese auf.

Effizientes Lesen besteht darin, dass Sie die jeweilige Mischung von Lesestilen so auf die eigenen Leseinteressen und die Eigenschaften des Lesetextes abstimmen, dass mit einem Minimum an Zeit und kognitivem Aufwand dem Text ein Maximum an relevanten Informationen entnommen werden kann. Voraussetzung für effizientes Lesen ist, dass die sprachlichen Leseprozesse möglichst automatisch, d.h. ohne Nachdenken ablaufen.

Fehlendes oder noch nicht automatisiertes fremdsprachliches Wissen hindert Sie nicht nur direkt, sondern auch indirekt daran, Ihre an der Muttersprache erprobte Lesefähigkeit auf die Fremdsprache anzuwenden.

Direkt: Wenn Ihnen Wörter oder grammatische Regeln fehlen oder nicht schnell genug einfallen, lesen Sie langsam, unsicher, verstehen den Text vielleicht falsch oder gar nicht.

Indirekt: Die gleichen Probleme wirken sich indirekt auf andere Teile des Leseprozesses aus. Einerseits sind die kognitiven Ressourcen Ihres Arbeitsgedächtnisses begrenzt. Andererseits dürfen Sie ein bestimmtes Lesetempo nicht unterschreiten, sonst reißt der Lesefaden ab und Sie erfassen den Text nicht mehr als Einheit. Wenn Sie nun manche Prozesse der Buchstaben-Dekodierung, der Worterkennung oder der Suche nach einer Wortbedeutung noch gar nicht beherrschen oder noch nicht automatisiert haben, verbrauchen Sie dabei Aufmerksamkeits-Ressourcen, die Ihnen bei der Verarbeitung höherer Ebenen fehlen. Sie kommen beim Lesen dann gar nicht mehr dazu, zum Beispiel die Textlogik zu reflektieren oder allgemeine Aussagen des Textes zu analysieren.

Häufig fallen deshalb Lerner, die in der Muttersprache unter Anwendung vielfacher Lesestrategien und damit flüssig und problemlos lesen, in der Fremdsprache auf den Zustand des Schulkindes zurück, das mühsam Wort für Wort liest und den Gesamtsinn nicht erfasst. Ihnen fehlen nicht die Strategien, sie können sie nur nicht anwenden, weil sie sozusagen anderweitig beschäftigt sind.

Sie müssen dafür sorgen, dass Sie über hinreichende Sprachkenntnisse verfügen, die Ihnen überhaupt erlauben, einigermaßen fließend zu lesen.

• Wenn die Fremdsprache ein von Ihrer Muttersprache abweichendes Schriftsystem besitzt, müssen Sie natürlich die neuen Schriftzeichen beherrschen. Das geht zumindest bei Alphabetschriften (z. B. Griechisch oder Russisch) meist schneller, als man es sich am Anfang vorstellt.
  
• Auch die Grundgrammatik müssen Sie zumindest rezeptiv beherrschen, also die Regeln des Satzbaus von Haupt- und den wichtigsten Nebensätzen sowie die wichtigsten grammatischen Funktionswörter. Bei Sprachen, die grammatische Beziehungen durch Endungen markieren, sollten Sie auch die wichtigsten Flexions- und Konjugationsmuster kennen, um grammatische Beziehungen in den Sätzen, die Sie lesen, zu erfassen.
  
• Am wichtigsten sind hinreichende Wortschatzkenntnisse, ohne die Sie wegen Überlastung des Arbeitsgedächtnisses große Leseschwierigkeiten haben. Wenn Sie schnell einfache Texte lesen wollen, sollten Sie daher möglichst bald eine größere Menge Vokabeln mit ihren Hauptbedeutungen mit Hilfe von Grundwortschatzlisten lernen (Größenordnung: 1500 - 2000 Wörter). Solche Listen von Grundwortschätzen gibt es für viele Sprachen. Auf Bedeutungsfeinheiten kommt es dabei zunächst nicht an, die können Sie beim Lesen oft jeweils aus dem Kontext erschließen.

In einem Roman lesen Sie innerhalb eines Dialoges folgenden Satz: "Robert warf ein, dass er diese Aufgabe nicht übernehmen könne."

Das Verb werfen kennen Sie bisher nur in seiner konkreten Bedeutung wie einen Ball werfen. Hier ist es mit dem Wort ein verbunden und meint offenbar etwas anderes, nämlich sagen. Sie haben gelernt, dass es im Deutschen trennbare Verben gibt und suchen entsprechend im DaF-Wörterbuch unter einwerfen.
Dort finden Sie die passende Bedeutung "jnd, der spricht, unterbrechen, um kurz selbst etwas zu sagen" und als Beispiele eine Bemerkung, eine Frage einwerfen. Sie finden auch Angaben zur Aussprache, zur Syntax und zu weiteren Bedeutungen. Aussprache: die Betonung liegt auf der Vorsilbe ein-. Syntax: einwerfen kann intransitiv und transitiv gebraucht werden, das Objekt kann der bewegte Gegenstand, z.B. ein Ball sein, aber auch das Ziel, z.B. ein Fenster. Bedeutungen: etwas in etwas stecken (Brief in Briefkasten e., Münze in Automaten e.), etwas Flaches und Zerbrechliches durch Werfen zerstören (eine Glasscheibe e.) und schließlich in der Sportsprache einen Ball ins Spielfeld zurückbringen (häufiger als abgeleitetes Substantiv Einwurf).

Eine kurze gut lesbare Einführung ist:

• Lutjeharms, M. 1998 Lesen im Fremdsprachenunterricht. In: Jung, U. O. H. (ed.) Praktische Handreichung für Fremdsprachenlehrer. 2. Aufl. Frankfurt: Lang, 281-287.
  

Gut verständlich ist auch die folgende Einführung, die gleichzeitig viele Hinweise zu Leseübungen enthält. Die Darstellung des Leseprozesses ist allerdings einseitig.

• Westhoff, G. 1998 Fertigkeit Lesen. Berlin: Langenscheidt (Fernstudieneinheit, 17).
  

Eine anspruchsvolle, den Stand der Forschung resümierende Gesamtdarstellung:

• Urquhart, A. U.; Weir, C. J. 1998 Reading in a Second Language: Process, Product and Practice. London: Longman.