Leseprozesse
Leseprozesse
Lesen ist eine komplexe Tätigkeit, die in Abhängigkeit von Texten, Lesezielen und den dazugehörigen Lesestilen stark variiert. Jedes Individuum hat seine eigene, durch verschiedene Zielsetzungen und Erfahrungen geprägte Art, Texte zu lesen.
Beim Lesen verarbeiten wir einen geschriebenen Text in sprachlichen und kognitiven Prozessen. Dies geschieht in zweifacher Richtung:
- Zum einen dekodieren wir mit Hilfe unseres Sprachwissens und unserer Leseerfahrung die sprachlichen Daten, die der Text enthält. Dabei aktivieren wir Prozesse, die vom geschriebenen Text ausgehen, also datengetrieben oder bottom-up verlaufen.
- Zum anderen interpretieren wir mit Hilfe unseres Vorwissens den dabei sich entwickelnden Inhalt des Textes. Dabei aktivieren wir Prozesse, die von unserem Verständnis ausgehen, also erwartungsgeleitet oder top-down verlaufen.
Der Weg dieser Prozesse geht über verschiedene Verarbeitungsebenen sprachlicher und kognitiver Information. Diese Ebenen umfassen u.a. die Ebene der Buchstaben oder Schreibzeichen, die Ebene der Wörter sowie die Ebene der Bedeutung. Die Prozesse erfordern Aufwand an kognitiven Ressourcen, der bei bewusster Kontrolle hoch, bei automatisierten Prozessen niedrig ist.
Lesen ist damit nicht nur passive Entnahme von Inhalt, sondern eine aktive Auseinandersetzung des Lesers mit dem Text, die zu einer Rekonstruktion der im Text enthaltenen Bedeutung führt. Diese Rekonstruktion kann durchaus abweichen von dem, was der Autor des Textes meinte oder was andere Leser aus dem Text herauslesen. Das Maß dieser Abweichungen ist textsortenabhängig: ein Gedicht lässt viel interpretatorische Freiheit, eine Fahrplantabelle nur wenig.