Lesefähigkeit

Bei diesem Lesestil sollten Sie sich folgende Fragen stellen:

• Vorab: Über welche Sachverhalte suchen Sie Informationen?
• An wen richtet sich der Text?
• Was besagt die Überschrift? Was schließt sie aus?
• Gibt es Zwischenüberschriften, Graphiken, Bilder? Was besagen sie?
• Werden bestimmte Textteile graphisch hervorgehoben?
• Welche Informationen geben der erste und der letzte Paragraph des Textes?
• Welche Informationen geben die Anfangs- und Schlusssätze jedes Paragraphen?
• Kommen bestimmte inhaltlich aussagekräftige Begriffe besonders oft im Text vor?

Versuchen Sie, die gefundenen Antwort zu einem Gesamturteil zusammenzufassen und entscheiden Sie dann, ob Sie weiterlesen wollen und wenn ja, welche Passagen Sie vertieft (total) lesen wollen.

Wie die Analyse der Leseprozesse zeigt, können Lesestrategien auf verschiedenen Ebenen eingesetzt werden. Zwei wichtige ebenenspezifische Strategien (unter vielen möglichen) sollen hier beispielhaft genannt werden: das Vokabelraten und die Antizipationsstrategie.

• Vokabelraten: Zwar müssen Sie beim Lesen keinesfalls jedes Wort verstehen, um den Gesamtsinn zu erfassen. Oft aber hängt das Textverständnis an einem wichtigen Wort, das Sie, wenn Sie es nicht kennen, entweder im Wörterbuch nachschlagen oder - schneller - in seiner Bedeutung erraten müssen. Intelligentes Raten zieht alle Informationen rund um das unbekannte Wort heran, die aussagekräftig sein könnten: die Ähnlichkeit des Wortes mit Wörtern anderer Sprachen (Internationalismus?), die Wortform (Grundform, Zusammensetzung oder Ableitung?), die Satzstruktur mit der grammatischen Funktion des Wortes (z. B. Substantiv oder Verb?), sein enger Kontext (was steht davor, was dahinter?) und sein weiter Kontext (wovon ist im Abschnitt überhaupt die Rede?). In Sprachen, die strukturell und/oder kulturell Ihrer Muttersprache oder bekannten Fremdsprachen nahestehen, ist solches Raten sehr oft erfolgreich. Beispiel
  
  
• Die Antizipationsstrategie besteht darin, an einem bestimmten Punkt des Leseprozesses innezuhalten und sich zu fragen, wie der Text wohl weitergehen könnte. Das kann auf der Satzebene geschehen (welches Verb muss am Ende stehen?), innerhalb eines Absatzes (wenn ein aber oder andererseits folgt - welches Gegenargument könnte jetzt folgen?) oder auch nach einem Teilabschnitt des Textes (welche Wendung könnte der Inhalt jetzt nehmen?) Beispiel. Mit dieser Strategie zwingen Sie sich, das bereits Gelesene zu ordnen und auf Wesentliches zu befragen. Gleichzeitig entwickeln Sie Kriterien für den folgenden Inhalt, die Ihre Verarbeitung lenken und beschleunigen. Durch die gezielte Verknüpfung von bereits Verarbeitetem und zu Erwartendem können Sie den Leseprozess bewusst gestalten und damit besser systematisieren.
  

Hinweise zum Üben weiterer Lesestrategien, die eher den gesamten Leseprozess steuern, finden Sie unter Lesestile.

Bewusst durchgeführte Strategien kosten Zeit und kognitive Ressourcen. Sie dürfen daher nicht so intensiv angewendet werden, dass der Leseablauf ins Stocken gerät und Sie den roten Faden des Textverständnisses verlieren. Versuchen Sie, Ihr persönliches Gleichgewicht zwischen Textbefragung und Lesefortgang zu finden. Bedenken Sie aber auch, dass Vokabelraten und Antizipation bei häufiger Anwendung zu Routinen werden können, die Sie immer weniger Mühe und Aufmerksamkeit kosten. Diese Strategien zu üben lohnt sich also.

Sie lesen in einem englischen Kriminalroman den Satz This bed has only been slept in once, der sich auf das Bett eines Hotelgasts bezieht, der einen Tag nach seiner Ankunft ermordet wurde.

Die grammatische Struktur des Satzes stellt Sie vor Probleme. has been slept ist offenbar ein Passiv des Subjekts bed, aber kann ein Bett im Englischen beschlafen (?) werden? Außerdem endet der Satz in zwei Wörtern in once, deren Bezug zum Rest Ihnen zunächst nicht klar ist. Sie analysieren: in gehört zum Verb sleep (to sleep in a bed) und steht hier beim Partizip (slept in) statt beim Objekt bed wie im Deutschen. once (einmal) bezieht sich hingegen auf das ganze Prädikat (to sleep in a bed - once). Das Verb mit folgender Präposition to sleep in sth. kann hier offenbar, obwohl nicht transitiv, im Passiv verwendet werden (spezielle Bedingungen für diese Konstruktionsmöglichkeit schlagen Sie ggf. in einer Grammatik nach). Damit ist der Sinn klar: "In diesem Bett wurde nur einmal geschlafen."

Die folgenden Publikationen richten sich an Fremdsprachenlehrer, können aber in Grenzen auch zum Selbststudium genutzt werden. Sie enthalten neben Übungssammlungen meist auch theoretische Einführungen in die Lesedidaktik und den Leseprozess, die dabei hilfreich sein können.

Deutsch als Fremdsprache:

• Häussermann, U.; Piepho, H.-E. 1996 Aufgaben-Handbuch Deutsch als Fremdsprache. Abriss einer Aufgaben- und Übungstypologie. München: iudicium. Darin einschlägig S. 79 ff. und 286 ff.
  
• Karcher, G. L. 1988/1994 Das Lesen in der Erst- und Fremdsprache. Dimensionen und Aspekte einer Fremdsprachenlegetik. 1./2. Aufl. Heidelberg: Julius Groos.
  
• Stiefenhöfer, H. 1986 Lesen als Handlung. Didaktisch-methodische Überlegungen und unterrichtspraktische Versuche zur fremdsprachlichen Lesefähigkeit. Weinheim: Beltz.
  
• Westhoff, G. 1998 Fertigkeit Lesen. Berlin: Langenscheidt (Fernstudieneinheit, 17).
  

Englisch als Fremdsprache:

• Aebersold, J. A.; Field, M. L. 1997 From Reader to Reading Teacher. Issues and Strategies für Second Language Classrooms. Cambridge: CUP.
  
• Glendinning, E. H.; Holmström, B. 1992 Study Reading. A Course in Reading Skills for Academic Purposes. Cambridge: CUP.
  
• Wallace, C. 1992 Reading. Oxford: Oxford University Press.