Individuelle Unterschiede

Individuelle Unterschiede beim Fremdsprachenlernen
Folgende Parameter können für Ihr persönliches Sprachlernprofil relevant sein:
- Sie rufen oft Bilder aus Ihrem Gedächtnis ab.
- Sie sind in der Lage, sich ungewohnte Laute zu merken, die Sie dann abrufen und nochmals 'hören' können.
- Sie sind jemand, der unbedingt alles genau verstehen möchte! Sie möchten sich selbst kontrollieren oder zumindest bewusst die Entscheidung treffen, diese Kontrolle aufzugeben.
- Sie reagieren auf neue Erlebnisse und neue Bekannte nach Ihrem Gesamteindruck und vertrauen Ihren Gefühlen oder Ihrer Intuition! (Es geht um sog. ganzheitliches versus analytisches Denken.)
- Inwiefern möchten Sie sicher sein, dass alles gut klappt, bevor Sie es ausprobieren? Bereiten Sie sich auf Neues sorgfältig vor?
Mehr zur Auswirkung dieser unterschiedlichen Merkmale auf den Fremdsprachenerwerb finden Sie hier.
Nachdem Sie sich mit Hilfe obiger Parameter selbst eingeschätzt haben: Bitten Sie jemanden, Sie entlang dieser Merkmale ebenfalls einzuschätzen. Damit können Sie ihre Selbsteinschätzung kontrollieren bzw. relativieren!
Nutzen Sie alle Ihre Eigenschaften aus:
- Fremdsprachen können sehr erfolgreich erworben werden, unabhängig von individuellen kognitiven Unterschieden.
- Was Bilder versus Laute betrifft, ist sowohl Ihr visuelles als auch Ihr auditives Gedächtnis beim Sprachenerwerb äußerst nützlich, nur werden Sie möglicherweise einem der beiden den Vorzug geben.
- Bei analytischem gegenüber holistischem Denken gilt dasselbe: Alle Menschen verfügen über beide Denkarten. Es ist sogar von Vorteil, wenn die Fremdsprache sowohl holistisch als auch analytisch gelernt wird. Zum Beispiel darf das Vertrauen auf Intuition und auf Gefühle nicht als Anlass benutzt werden, auf ein Interesse an der Grammatik der Zielsprache absichtlich zu verzichten! Mehr
- Eine gewisse Risikobereitschaft, vor allem bei der aktiven Verwendung einer Fremdsprache, die man nur teilweise beherrscht, ist von Vorteil. Andererseits muss man weiterhin seine eigene Sprachproduktion gezielt beobachten und dadurch zu verbessern versuchen. Mit anderen Worten: Risikobereitschaft soll nicht eine Reduzierung der Aufmerksamkeit bedeuten, aus Fehlern kann man nur dann lernen, wenn sie als solche erkannt werden.
Analytisches gegenüber holistischem (ganzheitlichem) Denken
Dieser Gegensatz kann mit weiteren psychologischen Eigenschaften in Verbindung gebracht werden, die Menschen voneinander unterscheiden. Zum Beispiel sind analytisch denkende Menschen eher introvertiert als solche, die extrovertiert sind und holistisch denken! Die 'Analytiker' tendieren dazu, nach Regelmäßigkeiten zu suchen, während die 'Holisten' eher Daten und Beispiele sammeln. Analytisches Lernen ist eher bewusstes Lernen, holistisches Lernen läuft eher unbewusst ab. Neuropsychologisch werden analytische kognitive Fähigkeiten (bei Rechtshändern) eher in der linken Hemisphäre des Gehirns loziert, während holistische Wahrnehmungen eher in der rechten Hemisphäre verarbeitet werden!
Menschen benötigen jedoch beide Hemisphären zum Denken! Und in der Tat sind sowohl analytisches als auch holistisches Lernen für den Spracherwerb unentbehrlich: Beide Denkarten arbeiten zusammen. Wenn man sich daher selbst als 'sehr analytisch' einschätzt oder aber meint 'So was Analytisches liegt mir überhaupt nicht!', dann sollte man trotzdem das Gegenteil zu beweisen versuchen! D.h. experimentieren Sie mit sich selbst! Wenn Sie meinen, dass Sie ohne grammatische Kenntnisse nicht zurechtkommen, probieren Sie's trotzdem. Wenn Sie meinen, Grammatik nie verstehen zu können, versuchen Sie anhand von Beispielsätzen Ihre eigenen Grammatikregeln zu formulieren!
Literatur
Literatur zu individuellen Unterschieden und zum Lernerfolg
- Zur Frage, weshalb einige Lerner mehr Erfolg als andere haben, s. Edmondson/House 2000 Einführung in die Sprachlehrforschung, Tübingen: Narr, Kapitel 11 und die Seiten 232-242. Diese Abschnitte geben einen Überblick über verschiedene relevante Lernereigenschaften.
- Aus verschiedenen Studien geht hervor, wie sich 'gute' Fremdsprachenlerner in der Tendenz von Personen unterscheiden, die einen geringeren Lernerfolg nachweisen können. Mehr
- Für einen (systematischen) Überblick über verschiedene Faktoren, die vermutlich bei individuellen Lernern einen Einfluss auf ihren Lernerfolg ausüben, s. Riemer, C. 1997 Individuelle Unterschiede im Fremdsprachenerwerb, Schneider-Verlag Hohengehren, Kapitel 1. Die Arbeit betont die wechselseitige Interaktion dieser Faktoren und untersucht sie in einem empirischen Teil (Kapitel 3).
Literatur zum Thema holistisches/analytisches Lernen
Literatur zum Thema holistisches/analytisches Lernen und damit verwandten Unterscheidungen
- In Edmondson/House 2000 Einführung in die Sprachlehrforschung, Tübingen: Narr, Kapitel 11, S. 232-242, werden individuelle Unterschiede beim Spracherwerb zusammenfassend dargestellt. Siehe vor allem die Tabelle auf Seite 215.
- Die Unterscheidung zwischen holistischem und analytischem Lernen wird dort auch mit der Spracherwerb/Sprachlernen-Unterscheidung von Krashen verknüpft, ebenso mit der Unterscheidung zwischen Flüssigkeit bei der Sprachverwendung und grammatische Genauigkeit beim Sprechen, die u.a. von Brumfit gemacht wurde.
Krashens Hypothesen zum Sprachenlernen
Die Ideen von Stephen Krashen sind in zahlreichen Veröffentlichungen dargelegt und diskutiert worden.
- Krashen hat seine Haupthypothesen in mehreren Veröffentlichungen wiederholt und begründet. So zum Beispiel in: Krashen S.D. 1982 Principles and Practice in Second Language Acquisition. Oxford: Pergamon (Hauptthesen: S. 10-32).
- In Krashen S.D. 1989 (Language Acquisition and Language Education, Englewood Cliffs, New Jersey: Prentice Hall) spricht er u.a. auch die Lehrerausbildung an: Vor allem aus dieser Perspektive wird Krashen in der Rezension von Chris Brumfit heftig krtisiert. In Applied Linguistics 13/1 (1992), S. 123-125.
- In Krashen/Terrell 1983 werden Anregungen und Prinzipien für die Fremdsprachenlehre auf der Grundlage von Krashens Ideen ausgeführt - interessanterweise spielt die Grammatik innerhalb des 'Natural Approach' dann doch eine Rolle, wenn auch eine bescheidene (s. Krashen S.D. und T. Terrell 1983 The Natural Approach: Language Acquisition in the Classroom, Oxford: Pergamon).
- Eine Darstellung und Kritik aller Aspekte von Krashens Hypothesen ist in Edmondson W./House, J. 2000 Einführung in die Sprachlehrforschung, Tübingen: Narr, S. 267-270; 284-289, zu finden.
Einige wichtige Hypothesen von Stephen Krashen
- Die Spracherwerbs-/Sprachlernen-Hypothese:
Erwachsene verfügen über zwei getrennte Methoden, Kompetenz in einer Fremdsprache zu entwickeln: die Sprache zu "erwerben", wie ein Kind die Muttersprache erwirbt, oder über die Sprache zu "lernen", wie im Grammatikunterricht. - Die Monitor-Hypothese:
Was gelernt wird hat nur eine Funktion als Überwacher oder Monitor, d.h. man kann im Prinzip seine eigene Sprachproduktion bzgl. der grammatischen Regeln, die man gelernt hat, überprüfen. Aus dem Gelernten kann nichts erworben werden! - Die Input-Hypothese:
Der Spracherwerb erfolgt nur durch das Verstehen von Information, d.h. durch verständlichen Input. - Die Affektive-Filter-Hypothese:
Affektive Faktoren können beim Spracherwerb eine negative Rolle spielen: wenn zum Beispiel keine Motivation oder kein Interesse vorliegt, dann kommt der Input nicht an.
Kontrovers ist vor allem die Behauptung, dass Kenntnisse über grammatische Regeln nicht mit der Zeit internalisiert werden und die Sprachproduktion automatisch steuern! Obwohl es richtig ist, dass grammatische Kenntnisse die Sprachkompetenz nicht direktsteuern, stimmt die o.g. Monitor-Hypothese nicht!
Was heißt es, in der Zielsprache Fortschritte zu machen?
Christopher Brumfit (z.B. Brumfit 1984, s.u.) hat eine wichtige Unterscheidung zwischen der grammatischen Korrektheit, mit der man spricht (sog. "accuracy") und der Flüssigkeit der Sprachverwendung (sog. "fluency") gemacht. So können Fremdsprachenlerner oft bestimmte grammatische Merkmale der Fremdsprache zwar in schriftlichen Übungen richtig anwenden, bei spontanen Redewendungen jedoch ist die Beherrschung der Grammatik nicht mehr da!
In empirischen Studien wurde nachgewiesen, dass ein längerer Aufenthalt in einem zielsprachigen Land zwar oft zu einem Gewinn an kommunikativem Können führt, aber nicht unbedingt eine Verbesserung der grammatischen Genauigkeit mit sich bringt. D.h. man spricht (bzw. schreibt) mit der Zeit immer flüssiger, aber nicht notwendigerweise auch korrekter.
Beim Fremdsprachenlernen möchte man normalerweise natürlich die Sprache richtig benutzen können und zwar ohne große Hemmungen und Mühe, d.h. man will beide Ziele erreichen. Einige fremdsprachlichen Übungen und Aufgaben zielen eher auf "Accuracy" ab, während andere eher zu "Fluency" führen. D.h., um Fortschritte zu machen, muss man sowohl Neues über den richtigen Gebrauch der Zielsprache aufnehmen, als auch dafür sorgen, dass die Kenntnisse, die man bereits besitzt, in der Kommunikation eingesetzt werden.
Welche Mischung dieser beiden Faktoren den Lernprozess optimal fördert, hängt sowohl von Ihren eigenen bevorzugten Lerngewohnheiten bzw. Ihrem Lernstil als auch von der Lernstufe ab. Es wäre aber sicherlich ein Fehler, sich am Anfang nur mit der Grammatik zu beschäftigen, ohne auch Zeit in die Automatisierung des Gelernten zu investieren.
Literatur: Brumfit, C. 1984 Communicative Methodology in Language Teaching. The Roles of Fluency and Accuracy, Cambridge: Cambridge University Press.