Vanitas in den Künsten der Gegenwart
Forschungsprojekt, 2018-2022, ab 2019 gefördert von der Fritz Thyssen Stiftung
Das interdisziplinäre Forschungsprojekt, gefördert von der Fritz Thyssen Stiftung, hat die Formen und Funktionen des Rückbezugs auf barocke Vorstellungen von ‚Vergänglichkeit‘ in den Künsten der Gegenwart, insbesondere in Literatur, Theater und bildender Kunst untersucht.
Projektabstract
Mehrere große Ausstellungen haben gezeigt, was sich auch für Literatur und Theater feststellen lässt: eine genreübergreifende Wiederkehr des barocken Vanitas-Motivs in den Künsten der Gegenwart. Aber warum tritt gerade jetzt ein Thema zu Tage, das mit einer kleinen ins fin de siècle datierbaren Ausnahme seit dem Ende des 17. Jahrhunderts verschwunden war? Rächt sich hier was über Jahrzehnte hinweg mit der Tabuisierung von Tod und Sterben verdrängt worden war? Ist es die desillusionierende Erfahrung von Ohnmacht in einer Gesellschaft, die in ihrer Hybris Tod und Vergänglichkeit primär als Aufschub verhandelt, indem sie ewige Jugend, Schönheit, sexuelle Potenz und sogar Macht über die Reproduzierbarkeit des Menschen verspricht? Die andererseits aber mit dem bereits von Walter Benjamin konstatierten Verlust der Heilsgewissheit und dem zunehmenden Verzicht auf Religiosität und Glauben den hier erfahrenen Trost über die eigene Sterblichkeit geopfert hat?
Hat die Verbreitung von Drogen und häufig tödlich endenden Krankheiten wie Aids und Krebs oder die Zerstörung der natürlichen Grundlagen menschlichen Lebens die eigene Endlichkeit wieder so stark ins Bewusstsein gerufen, dass eine traditionell mittels des Vanitas-Motivs beklagte Vergeblichkeit und Fehlorientierung des viel zu schnell verrinnenden Lebens wieder virulent wird? Die Aktualität der Vanitas ist Teil einer neuen Form der Auseinandersetzung mit Tod und Sterben, doch ist das ursprüngliche Denkmodell ungleich vielschichtiger. Geht es doch ebenso um Reue über ein Leben, das als sinnlos vertan, als von vergeblichen Mühen geprägt wahrgenommen wird und doch alternativlos zu sein scheint.
Erst vor diesem Horizont warf eine Beschäftigung mit dem Phänomen ‚Vanitas‘ eine Reihe von Problemen auf. So war fraglich, ob die sich in künstlerischen Inszenierung von Totenschädeln manifestierende Sichtbarkeit, das performative Ausstellen von verwesenden Früchten und Tieren, das ostentative Rauchen auf Bühnen oder das Zelebrieren misogyner Weltverachtung in der Literatur Indizien für Rekurse auf eine überaus komplexe Denkfigur sind. Denn die Zuverlässigkeit, mit der in der Frühen Neuzeit symbolisch codiert und entsprechend dechiffriert werden konnte, ist in der Gegenwart nicht mehr gegeben. Deshalb hat das Projekt untersucht, welche Facetten des Motivs in der Gegenwartskultur aufgegriffen, welchen mit der Wiederholung einhergehenden, von Parodien bis zur vollständigen Entleerung reichenden Resemantisierungen sie unterworfen worden sind.
Eine die frühneuzeitlichen Ausprägungen angemessen berücksichtigende Auseinandersetzung mit Vanitas in der Kultur der Gegenwart stellte bislang eine Forschungslücke dar. Diese zum einen mit Blick auf die theoriegeleiteter Reflexion des Phänomens der ‚Wiederkehr‘, zum anderen mit Fokussierung auf die damit einhergehenden Bedeutungsverschiebungen zu schließen, war Aufgabe und Ziel des Projekts. Neben Theorieansätzen zu Wiederholung, Rekursivität und Transformation waren seit einiger Zeit in den Kulturwissenschaften relevante zeithistorische Überlegungen für das Projekt besonders wichtig.
Das Projekt wurde als Kooperation von Literaturwissenschaft und Kunstwissenschaft realisiert, ausgehend von der Annahme, dass die im Zentrum stehenden Bereiche der zeitgenössischen Literatur, bildenden Kunst und des Theaters hinsichtlich der Vanitas-Thematik eng miteinander verschränkt sind. So ist zum Beispiel sowohl in autobiografischen Erzähltexten, im Theater und in fotografischen Stillleben ein intensiver Rekurs auf Vanitas zu finden: In allen Genres geht es um die konkrete Auseinandersetzung eines Subjekts mit eigener Hinfälligkeit, mithin um eine mit dem Motiv eng verknüpfte Selbstreflexion in der künstlerischen Darstellung.
Die im Rahmen des Projekts durchgeführten Forschungen umfassten erstens historische und intermediale Vergleiche, zweitens Querschnittsanalysen zentraler Vanitas-Motive sowie drittens close readings einzelner Werke unter dem Epochencode ‚barocke Vergänglichkeit‘. Vanitas in den Künsten der Gegenwart wurde vergleichend in den folgenden sechs Genres untersucht, die eine Reihe von Verschränkungen aufweisen: 1. Lyrik, 2. Prosa, 3. Theater, 4. Installationskunst, 5. Videokunst, 6. Fotografie.
Für alle sechs Genres wurden vier übergreifende Untersuchungsperspektiven entwickelt: Während unter der Perspektive der Symbolik der Vanitas die mit Wiederholung einhergehenden Resemantisierungen, Inversionen, Komisierungen oder auch Entleerungen in den zeitgenössischen Künsten untersucht wurden, standen unter der Überschrift Ästhetik der Vanitas Materialität, Medialität und damit einhergehende Reflexionen von Zeitlichkeit sowie phänomenologische Aspekte der Erfahrbarkeit des ‚Vergehens‘ im Zentrum. Die dritte Untersuchungsperspektive, Anthropologie der Vanitas, hat künstlerische Auseinandersetzungen mit Endlichkeit und Mortalität sowie die Spannung von Selbst- und Fremdbestimmtheit, Macht und Ohnmacht thematisiert, während die vierte, Kritik der Vanitas, das kritische Potenzial aktueller künstlerischer Ausprägungen des Motivs ausgelotet hat. Dies umfasste die dialektische Einheit von carpe diem und Lebensklage ebenso wie eine daran geknüpfte, nicht selten moralisch fundierte Kritik an gesellschaftlichen Verhältnissen.
Die resümierende Abschlusspublikation des Projekts findet sich hier: https://opus.hbk-bs.de/files/236/Vanitas_Abschlusspublikation_final.pdf
Zur Tagungsdokumentation „Vanitas und Gesellschaft“, 9.-10.7.2020 (siehe auch die Buchpublikation weiter unten)
Projektmitwirkende
Teilprojekt 1 (Universität Hamburg)
- Leitung: Prof. Dr. Claudia Benthien
- Wissenschaftliche Mitarbeiterin: Antje Schmidt
Promotionsprojekt: Welt im Verfall. Vanitas in der deutschsprachigen Gegenwartslyrik - Wissenschaftlicher Mitarbeiter: Christian Wobbeler
Promotionsprojekt: Theatrum vanitatis. Barocke Vergänglichkeit, Flüchtigkeit und Schein in zeitgenössischen Theaterinszenierungen
Teilprojekt 2 (Hochschule für Bildende Künste, Braunschweig)
- Leitung: Prof. Dr. Victoria von Flemming
- Wissenschaftliche Mitarbeiterin: Julia Catherine Berger
Promotionsprojekt: ‚Flowers Lost in Time‘ – Fotografische Vanitas-Transformationen
Publikationen des Hamburger Teilprojekts zum Thema
Herausgeberschaften (Sammelbände/Zeitschriften)
Claudia Benthien, Antje Schmidt und Christian Wobbeler (Hrsg.): Vanitas und Gesellschaft. Berlin/Boston: De Gruyter, 2021. https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/9783110716016/html?lang=de
Claudia Benthien und Victoria von Flemming (Hrsg.): „Vanitas. Reflexionen über Vergänglichkeit in Literatur, bildender Kunst und theoretischen Diskursen der Gegenwart“. Paragrana. Internationale Zeitschrift für Historische Anthropologie 27.2 (2018): 1-316. PDF
Claudia Benthien und Steffen Martus (Hrsg.): „Schnee von gestern. Methodische und theoretische Perspektiven historischer ,Wiederkehr‘ am Beispiel von Durs Grünbeins Descartes-Gedicht, begleitet von bisher unveröffentlichten Texten Durs Grünbeins“. Zeitschrift für Germanistik 24.2 (2011): 240-336.
Nordverbund Germanistik (Claudia Benthien u.a.; Hrsg.): Frühe Neuzeit – Späte Neuzeit. Phänomene der Wiederkehr in Literaturen und Künsten ab 1970. Bern u. a.: Lang, 2011. 236 S. (Publikationen zur Zeitschrift für Germanistik)
Aufsätze
Claudia Benthien und Victoria von Flemming (unter Mitarbeit von Julia Berger, Antje Schmidt und Christian Wobbeler): „Vanitas in den Künsten der Gegenwart: Untersuchungsperspektiven, Gegenstandsbereiche und Potentiale eines interdisziplinären Forschungsprojekts“. https://opus.hbk-bs.de/files/236/Vanitas_Abschlusspublikation_final.pdf. Hochschulschriftenserver der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig (Dez. 2022).
Claudia Benthien und Antje Schmidt. „Poetik der Seifenblasen: Schaum als Motiv, Materie und autopoietische Substanz in Lyrik und Künsten der Gegenwart“. Kulturpoetik. Journal for Cultural Poetics 22.2 (2022): 150-178. https://doi.org/10.13109/kult.2022.22.2.150
Claudia Benthien und Julia Catherine Berger: „Vanitas-Stillleben in der Videokunst. Aktuelle Perspektiven eines barocken Motivs und ihre Gestaltung von Zeitlichkeit“. Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft 66.1 (2021): 39-67.
Claudia Benthien, Antje Schmidt und Christian Wobbeler: „Vanitas und Gesellschaft. Zur Einführung“. Vanitas und Gesellschaft. Berlin/Boston: De Gruyter, 2021 1-25. PDF
Claudia Benthien: „‘Wilde Vielfalt‘. Monika Rinck und das Barock“. Monika Rinck. Poesie und Gegenwart. Hrsg. von Nicolas von Passavant und Nathan Taylor. Stuttgart: Metzler, 2023. 9-30. https://link.springer.com/ book/10.1007/978-3-662-64898-8. (Kontemporär. Schriften zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur 10)
Claudia Benthien: „Leben als Frist. Vergänglichkeit, Zeit und Tod in Erzähltexten der Gegenwart (Fioretos, Mayröcker, Pleschinski)“. Vanitas und Gesellschaft. Hrsg. von Claudia Benthien, Antje Schmidt und Christian Wobbeler. Berlin/Boston: De Gruyter, 2021 213-239. PDF
Claudia Benthien: „Aufzeichnung von Vergänglichkeit. Koen Theys’ Videoinstallation The Vanitas Record als ‚spektakuläres’ Stillleben“. Paragrana. Internationale Zeitschrift für Historische Anthropologie 27.2: Themenheft ‚Vanitas. Reflexionen über Vergänglichkeit in Literatur, bildender Kunst und theoretischen Diskursen der Gegenwart‘. Hrsg. von Claudia Benthien und Victoria von Flemming (2018): 175-190. PDF
Claudia Benthien: „‚Vanitas mundi‘. Der barocke Vergänglichkeits-Topos in bildender Kunst, zeitbasierten Medien und Literatur der Gegenwart“. Frühe Neuzeit – Späte Neuzeit. Phänomene der Wiederkehr in Literaturen und Künsten ab 1970. Hrsg. vom Nordverbund Germanistik [Thomas Althaus, Matthias Bauer, Claudia Benthien, Markus Fauser, Alexander Košenina und Steffen Martus]. Bern u. a.: Lang, 2011. 87-109. (Publikationen zur Zeitschrift für Germanistik, NF 24)
Claudia Benthien: „‚Vanitas, vanitatum et omnia vanitas‘. The Baroque Transience Topos and its Structural Relations to Trauma“. Enduring Loss in Early Modern Germany. Cross Disciplinary Perspectives. Hrsg. von Lynne Tatlock. Leiden und Boston: Brill, 2010. 51-69. (Studies in Central European Histories 50)
Julia Catherine Berger, Antje Schmidt und Christian Wobbeler: „Eitelkeit der Eitelkeiten. Barocke Darstellungen von Superbia und Vanitas und ihre Wiederholung in den zeitgenössischen Künsten“. Superbia. Im Land des Hochmutes und der Eitelkeit. Hrsg. von Rhein-Kreis Neuss, Kulturzentrum Sinsteden. Rommerskirchen 2020. 58-87. PDF
Flemming, Victoria von und Christian Wobbeler: „Die junge Frau und der Tod. Deutungen eines Vanitas-Motivs in bildender und darstellender Kunst der Gegenwart“. Zeitsprünge. Forschungen zur Frühen Neuzeit 26.1/2 (2022): 184-252.
Antje Schmidt: „‚Wiese sein‘. Vanitas und melancholische Naturbetrachtung bei Friederike Mayröcker und Marion Poschmann“. Vanitas als Wiederholung. Hrsg. von Victoria von Flemming und Julia Berger. Berlin: De Gruyter, 2022. 237-265. PDF
Antje Schmidt: „Hermetisch, unberechenbar, melancholisch. Barocktransformation in der Gegenwartslyrik (Kling, Poschmann)“. Gegenwartslyrik. Entwürfe – Strömungen – Kontexte. Hrsg. von Björn Hayer. Marburg: Büchner, 2021. 71-103
Antje Schmidt: „Performative Strategien des ‚memento mori‘. Erfahrungen der Vergänglichkeit in der Gegenwartslyrik (Dündar, Kunert)“. Paragrana. Internationale Zeitschrift für Historische Anthropologie 27.2: Themenheft ‚Vanitas. Reflexionen über Vergänglichkeit in Literatur, bildender Kunst und theoretischen Diskursen der Gegenwart‘. Hrsg. von Claudia Benthien und Victoria von Flemming (2018): 157-174. PDF
Christian Wobbeler: „The show must go on. Theaterreflexionen über das Sterben in der Inszenierungsgesellschaft“. Vanitas und Gesellschaft. Hrsg. von Claudia Benthien, Antje Schmidt und Christian Wobbeler. Berlin/Boston: De Gruyter, 2021. 149-170. PDF
Christian Wobbeler: „Mehr als ein ‚Bild der Eitelkeit‘. Über ephemere Materialitäten als (re-)materialisierte Vanitas-Symbole in zeitgenössischen Theaterinszenierungen“. Mit allen Sinnen. Künstliche Welten zwischen Multisensorik und Multimedialität. Hrsg. von Stephanie Catani und Jasmin Pfeiffer. Berlin/Boston: De Gruyter, 2021. 187-206.
Christian Wobbeler: „‚Ein Rauch / diß Leben ist‘: Symbolgehalt und Selbstreferentialität von Rauch und Rauchen in zeitgenössischen Theaterinszenierungen“. Paragrana. Internationale Zeitschrift für Historische Anthropologie 27.2: Themenheft ‚Vanitas. Reflexionen über Vergänglichkeit in Literatur, bildender Kunst und theoretischen Diskursen der Gegenwart‘. Hrsg. von Claudia Benthien und Victoria von Flemming (2018): 249-267. PDF